Die Verlegung und der Ausbau der Wilhelmsburger Reichsstraße sind beschlossene Sache. Nur eine Klage könnte das Vorhaben nun noch stoppen. Genau das ziehen rund 200 Menschen auf der Elbinsel nun in Erwägung. Mitstreiter Jochen Klein sieht hinreichend Anlass, vor Gericht zu ziehen. Die Stadt nehme sehenden Auges erhebliche Risiken, Nachteile und Regelverstöße in Kauf, sagt er – und das, obwohl der Nutzen der neuen Reichsstraße überhaupt nicht erwiesen sei. Die Verkehrsbehörde dagegen hält das Bauvorhaben für notwendig und sinnvoll – nicht nur, aber auch für Wilhelmsburg.
Der Beschluss betrifft fast die gesamte Strecke der Bundesstraße 4/57 auf der Elbinsel: Von der Anschlussstelle Wilhelmsburg-Süd bis zum Anschluss Georgswerder soll die Reichsstraße an die östlich gelegenen Bahnschienen heranrücken, wie die Hamburger Verkehrsbehörde mitteilt. Das Vorhaben bringt jahrelange Bauarbeiten mit sich: Zum einen steht der Neubau einer 4,6 Kilometer langen, vierspurigen Trasse an. Zum anderen müssen die Bahngleise für das Vorhaben umgebaut und entlang der Strecke Lärmschutzwände errichtet werden. Auch Brücken müssten neu gebaut werden. Um Raum für eine neue Abfahrt „HH-Wilhelmsburg-Mitte“ zu schaffen, soll die Rotenhäuser Straße von der neuen Trasse bis zur Kreuzung Dratelnstraße / Rubbertstraße zum Zubringer ausgebaut werden. „Unmittelbar betroffene Stadtstraßen“ wie Vogelhüttendeich und Kornweide sollen ebenfalls umgestaltet werden. Das Ganze werde etwa vier Jahre dauern, sagte eine Sprecherin der Verkehrsbehörde auf Anfrage von WilhelmsburgOnline.de. Danach erst könne mit dem Abriss von Teilen der alten Reichsstraße begonnen werden.
Baulärm und Umwege müssen die Menschen im Stadtteil hinnehmen, sagt die Behörde. Das öffentliche Interesse an dem Projekt sei höher zu bewerten. Die Bauherren dürfen laut Planfeststellungsbeschluss sogar Anwohner enteignen, wenn diese nicht bereit sind, ihre Grundstücke zu verkaufen. „Das ist das letzte Mittel – zum Wohle der Allgemeinheit“, sagte die Sprecherin der Verkehrsbehörde. Anwenden müsse man dieses Mittel wohl nicht: „Die betroffenen Grundstückseigentümer halten die Eingriffe offenbar nicht für derart gravierend, dass diese nicht gegen Entschädigung hinnehmbar sein könnten“, schreibt die Behörde. Einige hätten bereits freiwillig verkauft.
Behörde: Neubau ist nötig und sinnvoll
Der Neubau der Reichsstraße nicht nur sinnvoll, sondern auch nötig, heißt es im Planfeststellungsbeschluss. Bis 2025 soll der Verkehr auf der Bundesstraße laut Prognosen zunehmen. Die alte Reichsstraße sei schon heute nicht verkehrssicher – vier Fahrspuren auf 14 Metern Breite reichen demnach nicht aus, zumal es keine Standstreifen gibt. Außerdem sei der Unterbau der heutigen Bundesstraße nicht mehr tragfähig, schreiben die Planer. Die neue, breitere Reichsstraße soll den Verkehr sicherer und leichtgängiger machen.
Auch abseits der Straßen soll das Bauprojekt den Menschen in Wilhelmsburg nützen. Entlang der Strecke sollen Schutzwände von vier Metern oder höher errichtet werden, um den Lärm von Bahn- und Straßenverkehr abzuwehren. Außerdem wollen die Planer Platz schaffen für die weitere Umgestaltung Wilhelmsburgs. Aus stadtplanerischer Sicht sei die heutige Reichsstraße ein Hindernis. „Die bislang zerteilten Grünflächen zwischen den Anschlussstellen Hamburg-Wilhelmsburg und HH-Wilhelmsburg-Süd können zu einem einheitlichen 'Inselpark' zusammengeführt werden“, schreiben die Planer.
Beschwerden aus dem Stadtteil zurückgewiesen
Der Planfeststellungsbeschluss listet auch andere Meinungen auf. Fast ein Drittel des mehr als 500 Seiten starken Dokuments befasst sich mit den Beschwerden von Menschen aus dem Stadtteil. Sie bemängeln die Rechtsgrundlage für das Vorhaben, fürchten um ihr Eigentum, protestieren gegen Lärm und Luftverschmutzung, streiten für Natur- und Artenschutz, kritisieren eine unflexible und einseitige Planung oder sehen Werte und Heimat in Gefahr. Dem gegenüber stehen Stellungnahmen der Bauherren und der Befund der Behörde, die vorab klarstellt: „Die Einwendungen und Stellungnahmen werden zurückgewiesen, soweit ihnen nicht durch diesen Planfeststellungsbeschluss stattgegeben wird oder sie sich nicht durch Rücknahme, Berücksichtigung seitens des Vorhabensträgers oder auf andere Weise erledigt haben.“
Für Jochen Klein und seine Mitgesellschafter der Rechtshilfe Lebenswertes Wilhelmsburg (Relewi) sind die Einwände noch lange nicht erledigt. Sie überlegen, beim Hamburgischen Oberverwaltungsgericht gegen das Vorhaben zu klagen. Gründe dafür gebe es genug, sagt Jochen Klein im Gespräch mit WilhelmsburgOnline.de. „Das ist eine Verkehrsplanung, die den Süderelbraum als Zubringer zur Hamburger Innenstadt begreift und nicht als Wohngebiet“, kritisiert er. Die neue Reichsstraße werde weder leiser noch sicherer – im Gegenteil. Es sei nachgewiesen, dass auf einer breiteren Fahrbahn mehr Unfälle zu erwarten wären als auf der jetzigen Reichsstraße. Der Ausbau begünstige, dass immer mehr Autos und Lastwagen durch Wilhelmsburg fahren – dadurch steige der Lärm und die Menge von krankmachendem Feinstaub und Stickoxiden in der Luft. Außerdem ließen die Planer neue Lärmschutzregeln und von der EU festgelegte Grenzwerte außer Acht.
Vorteile für die Menschen im Stadtteil sehen die Kritiker von Relewi gar nicht. „Unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten ist die Verlegung der Reichsstraße vollkommen überflüssig“, sagt Jochen Klein. Über die neue Straße kämen die Menschen höchstens 30 Sekunden schneller ans Ziel als zuvor. Auch zerteile die neue, breitere Trasse mit hohen Lärmschutzwänden den Stadtteil noch deutlicher als die heutige Reichsstraße. Dass der Ausbau der Allgemeinheit Vorteile verschafft, glaubt Jochen Klein nicht. „Das ist für mich ein unwahrscheinlich schwaches Argument. Die gemeinschaftlichen Interessen sind doch gar nicht nachgewiesen“, sagt er.
Bau könnte schon am 8. August beginnen
Doch der Plan der Behörde steht fest. Bis zum 15. Juli liegen die Dokumente in der Verkehrsbehörde und im Bezirksamt Bergedorf aus – danach gilt der Beschluss als zugestellt. Ab dann läuft die Zeit: Wer klagen will, muss das innerhalb eines Monats tun. Für Relewi tickt die Uhr schon jetzt, sagt Jochen Klein. Der Rechtsanwalt der Gesellschaft habe den Beschluss per Post geschickt bekommen. Damit gelte er als förmlich zugestellt, die zwei Wochen Frist zur Einsicht fielen damit weg. Für Jochen Klein ist das ein Druckmittel, eine Kampfansage der Behörde. „Da wird der Bürger als Feind betrachtet und nicht als Auftraggeber“, kritisiert er. Nun soll möglichst bald über Klage oder nicht Klage entschieden werden. Die Verkehrsbehörde hat bereits den Baubeginn im Blick: Solange kein Richter das Verfahren stoppt, soll es am 8. August losgehen, sagt die Sprecherin.
von Annabel Trautwein
Tipp:
Wer die Pläne für das Bauvorhaben selbst anschauen möchte, kann das bis zum 15. Juli hier tun:
Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation, Rechtsamt, Alter Steinweg 4, 20459 Hamburg, Raum 626 (Montag bis Freitag von 9:00 Uhr bis 16:00 Uhr)
Bezirksamt Bergedorf, Wentorfer Str. 38a, 21029 Hamburg, 1. OG gegenüber Raum 115 (Montag und Dienstag von 8:00 Uhr bis 13:00 Uhr und 14:00 Uhr bis 16:00 Uhr, Donnerstag von 8:00 Uhr bis 13:00 Uhr und 14:00 Uhr bis 18:00 Uhr, Freitag von 8:00 Uhr bis 12:00 Uhr)
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