Der Beschluss ist gefasst: Die Gegner der neuen Wilhelmsburger Reichsstraße wollen vor Gericht gegen das Bauprojekt klagen. Bei einer Gesellschafterversammlung der Solidargemeinschaft Rechtsschutz Lebenswertes Wilhelmsburg (Relewi) am Donnerstag stimmten 131 Personen für die Klage, nur zwei stimmten dagegen. Nun soll das Oberverwaltungsgericht darüber entscheiden, ob das Bauvorhaben wie geplant umgesetzt werden darf.
„Die Planung soll komplett gekippt werden“, sagt Jochen Klein, einer der Geschäftsführer von Relewi. Das Abstimmungsergebnis von 98,5 Prozent für die Klage erteilt dem Planfeststellungsbeschluss der Hamburger Verkehrsbehörde eine klare Absage. Demnach sollen 4,6 Kilometer der heutigen Wilhelmsburger Reichsstraße verlegt werden: Von der Anschlussstelle Wilhelmsburg-Süd bis zum Anschluss Georgswerder soll eine neue, 28 Meter breite Trasse entlang der Bahnschienen gebaut werden. Außerdem sieht der Planfeststellungsbeschluss eine neue Ausfahrt namens „HH-Wilhelmsburg-Mitte“ vor. Das östliche Ende der Rotenhäuser Straße soll deshalb zum Zubringer ausgebaut werden.
Nach Ansicht der Kritiker verstößt das Vorhaben gegen geltendes Recht und ist deshalb nicht umsetzbar. Ihnen ist die geplante Strecke nicht sicher genug. „Die Straße ist für eine Wohlfühlgeschwindigkeit von 125 km/h geplant“, sagt Jochen Klein. Zwar ist im Beschluss der Verkehrsbehörde davon die Rede, dass eine Höchstgeschwindigkeit von 80 Kilometern pro Stunde vorgesehen sei. Doch ob es wirklich so kommt und dann auch bleibt, ist nicht garantiert. „Mit diesem Beschluss werden keine zulässigen Höchstgeschwindigkeiten oder andere Verkehrsregelungen nach der StVO festgesetzt“, schreiben die Planer auf Seite 306 ausdrücklich. Für Jochen Klein steht fest, dass die breiteren Spuren der neuen Reichsstraße zu schnellerem Fahren verleiten würden – das habe auch der Gutachter Professor Hermann Knoflacher festgestellt. Knoflacher bescheinigt demnach, der geplante Trassenneubau erfülle „alle Ansprüche an eine Vollautobahn“.
Kritiker: Stadt hat Risiken nicht geprüft
Die möglichen Folgen von Raserei oder anderen Gefahren auf der neuen Reichsstraße hat die Verkehrsbehörde laut Jochen Klein gar nicht in Betracht gezogen. „Es fehlt eine komplette Risikoanalyse der Doppeltrasse“, sagt er. Es sei weder zu erkennen, dass die Planer Unfallszenarien in der Theorie durchgespielt hätten, noch gebe es ein schlüssiges Sicherheitskonzept. Die Einschätzungen der Feuerwehr oder der Deutschen Bahn will Klein als Ersatz nicht gelten lassen – zumal die Bahn eine der Bauherrinnen des Vorhabens ist. „Die Bahn bescheinigt sich selbst Sicherheit“, sagt der Wilhelmsburger. „Wen wundert das?“
Zudem befürchten die Kritiker mehr Lärm und mehr Luftverschmutzung, sollte die neue Reichsstraße gebaut werden wie geplant. Denn sobald die Tachonadeln auf der Strecke über die Tempo-80-Marke klettern, stimme auch die Lärmschutzberechnung der Planer nicht mehr, sagt Jochen Klein. Für ihn und seine Mitstreiter steht fest: Je attraktiver die neue Reichsstraße wird, desto mehr Fahrzeuge werden darüber hinweg jagen und die Insel mit Lärm und Abgasen belasten.
Mit ihrem Plan lenke die Behörde die Zukunft des Straßenverkehrs in ganz Hamburg in die falsche Richtung, sagt Jochen Klein. Die alte Trasse der Reichsstraße sei zusätzlichem Verkehr hinreichend gewachsen, wie sich seit Beginn der Internationalen Bauausstellung (IBA) und internationaler Gartenschau (igs) zeige. Die geplante neue Trasse würde dagegen zusätzlichen Verkehr anlocken und Menschen auch da zum Autofahren verleiten, wo eine Fahrt mit Bahn oder Bus sinnvoller sei. In der Folge des Ganzen erwarten die Kritiker eine überfüllte Innenstadt und ein Verkehrschaos im eigenen Stadtteil. Das alles würde Hamburg niemals planen, wenn nicht der Bund Geld dazu geben würde, sagen sie – nur damit seien die Ausmaße der geplanten neuen Reichsstraße zu erklären.
Kompromisse gescheitert
Jochen Klein sagt, er bedauere, dass es nun zu einer Klage komme. Lieber hätte er sich anders mit der Stadt geeinigt. Doch alle Versuche der Bürgerinnen und Bürger, mitzureden und einen Kompromiss zu schließen, seien gescheitert. Im Beteiligungsverfahren hätten Menschen aus dem Stadtteil sich für schmalere Fahrbahn oder aber strengere Tempolimits eingesetzt – vergeblich. „Es war völlig egal, was vorgeschlagen wurde. Es ist alles abgeperlt wie Regen an einer Scheibe“, sagt Jochen Klein.
Deshalb soll nun eine unabhängige Instanz entscheiden. Die künftigen Kläger wollen sich bald wieder treffen, um den Planfeststellungsbeschluss noch einmal genau unter die Lupe zu nehmen und über die Strategie zu beratschlagen. In den ersten Augusttagen muss die Klageschrift beim Oberverwaltungsgericht eingetroffen sein. Wie es danach weitergeht, ob sich Kläger und Planer noch im Prozess gegenüberstehen werden, wird das Gericht entscheiden. Über die Kosten werden die Kläger erst nach dem Urteil Gewissheit haben, sagt Jochen Klein. Schon jetzt habe die Solidargemeinschaft mehrere Zehntausend Euro aufgewendet, unter anderem Honorarkosten für den Rechtsanwalt.
Jochen Klein ist überzeugt, dass sich am Ende alles gelohnt haben wird. „Wenn wir Erfolg haben, dann haben wir richtig viel Zeit, um echte Verbesserungen anzugehen“, sagt er. Eins der ersten Ziele wäre dann ein Konzept für den Lärmschutz entlang der Bahntrasse. Darauf warten die Anwohner ohnehin schon seit Jahren.
von Annabel Trautwein
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