Wahlsonntag in Wilhelmsburg

Die deutschen Staatsbürger in Wilhelmsburg haben sich entschieden: für eine Partei, für eine Direktkandidaten oder eine Direktkandidatin, gegen sie alle – oder fürs Nichtwählen. Wie ist die Stimmabgabe gelaufen? WilhelmsburgOnline.de hat sich am Sonntag in den Wahllokalen der Insel umgesehen.

Kurz nach acht in der Fährstraße: In den beiden Wahllokalen der Gesamtschule ist schon einiges los. Ein junger Mann mit Rock kommt die Stufen zur Schultür hinab, drinnen warten zwei dunkelhäutige Deutsche auf ihre Stimmzettel. „Du hast auch so was?“, fragt Wahlhelfer Manfred Dittmer, als der zweite ihm seine Wahlkarte reicht. Bis auf die Wahlbezirksnummer stimmt alles. Manfred Dittmer weist ihm den Weg zum benachbarten Wahllokal, dann erklärt er ihm noch kurz das Verfahren mit den Kreuzchen – sicherheitshalber. „Die ersten zehn sind immer ein bisschen hektisch“, sagt die Wahlhelferin, die mit Dittmer die Frühschicht übernommen hat. Draußen warten schon die nächsten: Ein Mann in Sandalen mit einem Holzkreuz um den Hals, der kurz innehält, bevor er die Stufen zum Wahllokal hinaufsteigt. Ein junger Mann mit kariertem Hemd folgt ihm, kurz darauf eine dunkelhäutige Frau und eine Gruppe Musliminnen. Die Polizei ist auch da. Sie laufen alle Wahllokale ab, um sicher zu gehen, dass alles demokratisch korrekt abläuft. „Habense Frühstück mitgebracht?“, wollen die Wahlhelfer wissen.

Auf der hölzernen Diele der Windmühle Johanna herrscht gemütliches Treiben. Es gibt Kaffee, Tee, Kekse und Weingummi für das Wahlvolk. „Das hier ist eins der attraktivsten Wahllokale“, sagt Roland Zimmel. In der Mühle wollen viele ihre Stimme abgeben, doch einige müssen wieder umkehren – die Nachbarn von gegenüber zum Beispiel, die einem anderen Wahlbezirk zugeordnet sind. Herzlich empfangen werden alle. Wahlhelfer Uwe Gerhard Hermenau telefoniert mit einer Wählerin und hilft ihr, das richtige Lokal zu finden. Eine Erstwählerin habe schon vor lauter Aufregung die Kreuzchen auf dem Stimmzettel vergessen, erzählt Zimmel. „Die war ziemlich enttäuscht, aber wieder rausholen dürfen wir das Papier ja auch nicht.“ Für eine ältere Wählerin im Rollstuhl legt er schnell eine Rampe vor die Mühlentür. Die Kaffeemaschine brodelt, sieben Wähler warten noch. „So, wenn die Schlange weg ist, gibt es Kuchen“, verkündet Roland Zimmel. „Oh“, sagt ein junger Mann. „Dann warte ich noch ein bisschen.“

Wahllokal in Kirchdorf-Süd: 2009 kam nur etwa ein Fünftel

„Meine Schwester hat ihren Ausweis vergessen, ist das schlimm? Sie hat auch denselben Nachnamen wie ich“, erkundigt sich ein Wähler im Regionalen Bildungs- und Berufszentrum in Kirchdorf-Süd. Ist nicht schlimm, versichert Regina Deinert und händigt beiden die Stimmzettel aus. Ein gutes Dutzend Menschen folgt, langsam angeführt von einer weißlockigen Frau mit Rollator, und gruppiert sich in der kargen Eingangshalle zwischen den künstlichen Topfpflanzen. Regina Deinert und ihre Kollegen haben alle Hände voll zu tun, Leerlauf gibt es kaum. Ganz anders als vor vier Jahren: Damals sei tote Hose gewesen, erzählen die Wahlhelfer. Nur ein Fünftel der Leute, die bei ihnen abstimmen durften, hätten von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Nun geht schon wieder die Tür auf. „Ah, da kommt der Sohn“, ruft Regina Deinert. Ein älterer Herr mit dunkler Haut und Sakko eskortiert einen jüngeren bis vor ihr Pult. „Jede Stimme zählt!“, ruft er fröhlich. Vier seiner sieben Kinder hat er heute schon abgeliefert, jedes einzeln. „Tja, als Partei muss man die Familie erreichen“, sagt Wahlhelfer Holger Wallitzer lachend.

In der Remise der Freiwilligen Feuerwehr in Moorwerder ist ähnlicher Andrang, jedoch auf viel engerem Raum: Ein sechsköpfiges Wahlhelfer-Team teilt sich das gelblich braun gekachelte Vereinszimmer mit der Wählerschaft, einer Einbauküche, einer Statue des Heiligen Florian und unzähligen Pokalen. Dann kommt auch noch ein Polizeibeamter dazu. „Er ist in Uniform, er darf nicht wählen!“ Die Dienstanweisung für den Wahltag ist dem Team offenbar schon in Fleisch und Blut übergangen. Auch die Scherze der Nachbarn werden gleich gekontert: Wer behauptet, die Wahlkarte auf der Straße gefunden zu haben, wird ohne prüfenden Blick auf den Personalausweis nicht durchgelassen. Renate Zarth, die seit geschätzten 25 Jahren das Wahllokal im Süden der Insel besetzt, ist zufrieden: Wie beim vergangenen Mal sei mit rund 70 Prozent Wahlbeteiligung zu rechnen. „Hier ist die CDU traditionell die stärkste Partei“, sagt sie, als gerade keine Wähler in Hörweite sind. Doch seit die Zahl der Bauern in Moorwerder zurückgeht, verlöre die Union an Boden. „Von den jüngeren, die herziehen, wählen auch viele Grün“, sagt Renate Zarth.

Stimmabgabe in letzter Sekunde

Solche Erfahrungswerte gibt es im Neubau des „Tor zur Welt“-Bildungszentrums an der Krieterstraße noch nicht. Mitten in der neuen Eingangshalle, umstellt von noch rohen Betonpfeilern, wartet ein junges Wahlhelfer-Team auf das stimmberechtigte Volk. „Dass sich hier lange Schlangen gebildet hätten, kann man nicht sagen“, berichtet Tobias Ahlbrecht. In den Lokalen nebenan sei aber mehr los. Auch Ahlbrechts Team hinter den großen Glasscheiben tut alles, um den Wählerinnen und Wählern zu helfen. Ein junger Mann etwa braucht Rat: Er kommt mit einem Umschlag voller Briefwahldokumente und ist sich jetzt nicht sicher, wie er seine Stimme geltend machen kann. „Die Sachen kamen so spät an“, sagt er, deshalb wolle er sie doch lieber persönlich abgeben. Ein Blick in die Vorschriften und ein Anruf bei der Dienstelle später steht fest: Zur gültigen Stimmabgabe fehlt noch ein Zettel – und der liegt zu Hause. Der Wähler sprintet los – und ist tatsächlich kurz vor 18 Uhr wieder da. Mit dem Zettel.

Kurz darauf kippen die Wahlhelfer an der Fährstraße bereits die Urnen aus. Nun beginnt das große Entfalten, Stapeln, Zählen. Mindestens drei Mal werden sich die Wahlhelferinnen und Wahlhelfer jeden Stimmzettel anschauen. Stimmen am Ende die Zahlen nicht, geht das Zählen sogar noch ein viertes oder fünftes Mal vonstatten. Bisher hätten sich die Stimmen für CDU und SPD immer die Waage gehalten, sagt Manfred Dittmer, der schon lange dabei ist. Diesmal sieht es so aus, als lägen die linken und tendenziell linken Parteien vorn. Auch einige Protestschreiben sind dabei: Stimmzettel von Wählerinnen oder Wählern, die alles oder nichts angekreuzt oder in großen Lettern „Protest“ oder „bewusst ungültig“ auf dem Zettel vermerkt haben. Beim Helfer-Team des Wahlbezirks 13701 ernten sie dafür wenig Verständnis, doch spätestens beim Landeswahlamt soll die Botschaft ankommen: Auch alle Alternativen abzulehnen, kann eine politische Aussage sein.

von Annabel Trautwein

 

[fb_button] [tweetbutton]


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter:

Kommentare

Eine Antwort zu „Wahlsonntag in Wilhelmsburg“

  1. Avatar von der_tim

    Mir Bestürzung habe ich feststellen müssen, das in meinem Wahlbezirk (13703) die Wahlbeteiligung bei nur 39,7% liegt. Ich verstehe das nicht. 🙁

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert