Verlorener Posten? Wilhelmsburger Deichwacht fürchtet um ihre Existenz

Ein verlassener Grill schwelt vor der heruntergekommenen Turnhalle an der Rotenhäuser Straße. Auf dem Rost brutzeln Würstchen und Nackensteaks – übriggebliebenes vom Sommer. Drinnen am Tresen stehen die Männer der Deichwacht, schaffen das Fleisch aus der Welt, rauchen, reden. Seit mehr als 40 Jahren treffen sie sich in dem alten Flachbau. Die Wände könnten mal wieder einen Anstrich gebrauchen, neben der Tür läuft ein Riss durchs Gemäuer. Früher hätte es das nicht gegeben. Da hätte längst jemand die Sache angepackt, in Eigenleistung, schnell und unkompliziert. So war es Tradition bei der Deichwacht. Jahrzehntelang. Jetzt nicht mehr.

Seit 2007 soll die Wilhelmsburger Deichwacht eine neue Unterkunft bekommen. Die heutige Einsatzzentrale, eine alte Turnhalle am Kanal, ist baufällig und gilt als nicht mehr zu retten. Im vergangenen Jahr noch verkündete der damalige Bezirksamtsleiter Markus Schreiber (SPD): „Ich freue mich, dass es uns gelungen ist, für die Deichwacht in Wilhelmsburg eine neue Unterkunft zu realisieren. Denn der jetzige Standort ist marode und soll 2012 abgerissen werden.“ Für die Deichwächter sollte – nach langem Hin und Her – ein Neubau in Finkenriek entstehen. Und jetzt? Der Neubau wurde zwar begonnen, erzählt der Vorsitzende Uwe Sommer. Doch nun ist Stopp auf der Baustelle, offenbar war irgendwo das Geld ausgegangen. „Jetzt verwildert das da wieder“, sagt er. Die Hoffnung auf einen baldigen Umzug haben die Deichwächter inzwischen aufgegeben. „Wir brauchen uns nichts vorzumachen. Vor April 2014 passiert da nichts mehr“, sagt Deichwächter Wolfgang Czepoks. 

Freiwilliger Rettungsdienst in ständiger Bereitschaft

Ungeduld ist es nicht, was die Deichwächter wurmt. Es fehlt ihnen die Wertschätzung der Stadt, deren Elbinsel sie seit 50 Jahren vor Sturmfluten schützen – in freiwilliger, unentgeltlicher Arbeit. Für Land und Leute in Wilhelmsburg ist die Deichwacht ein Rettungsdienst in ständiger Bereitschaft. Die Männer sorgen dafür, dass die Deiche standhalten, wenn das Wasser die Insel bedroht. Steigt der Pegel der Elbe über Hochwasserstufe zwei hinaus, ruft der Regionale Katastrophendienst im Bezirksamt bei Uwe Sommer an. Kurz darauf klingeln bei allen Deichwächtern die Telefone. In ihrer Unterkunft angekommen, melden sich die Wilhelmsburger bei der Technischen Einsatzleitung und geben ihre Gruppenstärke an. Dann heißt es abwarten. Ist ein Deich in Gefahr, melden die zuständigen Deichwarte Rettungsbedarf – dann muss alles ganz schnell gehen. Vom ersten Alarm bis zum Einsatz brauchen die Wilhelmsburger Deichwächter weniger als eine Stunde. So schnell könne das Technische Hilfswerk gar nicht reagieren, sagen sie. „Wir sind direkt vor Ort, das ist unsere Stärke“, meint Wolfgang Czepoks.

Einen Ernstfall gab es zum Glück schon lange nicht mehr. Wenn der Alarm kommt und Uwe Sommer seine Männer in die Einsatzzentrale beordert, fehlt zwar nur selten einer. Doch oft bleibt außer Skat Kloppen nichts zu tun. „Die Gefahr, dass es zur Überflutung kommt, ist inzwischen sehr gering“, sagt Uwe Sommer. Die Deiche seien heute höher und sicherer als früher, genauere Wettervorhersagen machen die Gefahr kalkulierbarer. Ende der Siebzigerjahre seien sie einmal drei Tage in Folge ausgerückt, erzählen die Deichwächter. Damals seien sie schon bei Hochwasserstufe 1 alarmiert worden. Der letzte Einsatz auf der Insel war 2001 am Obergeorgswerder Hauptdeich. „Die Grasnarbe war gerade neu angepflanzt, da fing das Wasser an zu wühlen“, erzählt Wolfgang Czepoks. Mit einer Plane und Sandsäcken sicherte die Deichwacht die beschädigte Stelle.

Junge Deichwächter sind selten

Heute treffen sich die Deichwächter vor allem aus alter Verbundenheit jeden Mittwochabend in ihrer Unterkunft. Die meisten kennen sich schon seit mehreren Jahrzehnten. Inzwischen sind einige der Männer aus Wilhelmsburg weggezogen und wohnen jetzt in anderen Stadtteilen oder im Hamburger Umland. Manche fahren jede Woche rund 50 Kilometer zum Treffen. „Früher haben wir uns sogar täglich getroffen“, erzählt Wolfgang Czepoks. „Das war wie ein Haus der Jugend hier.“ Damit ist es vorbei. Heute ist 22-jährige Torben Tiedemann mit Abstand der Jüngste. Einen Einsatz hatte er noch nie, nur die jährlichen Übungen. Ein Freund, dessen Familie drei Generationen von Deichwächtern zählt, hat ihn angeschleppt. „Mir gefällt's hier“, sagt Torben Tiedemann. Seine Devise: Wenn man schon in einem Suppenteller lebt, muss man sich auch für die Sicherheit stark machen. Deiche können immer kaputt gehen – das weiß er, auch ohne es gesehen zu haben.

Torben Tiedemann ist ein für die Deichwacht ein seltener Glücksfall. „Heutzutage ist es fast unmöglich, freiwillige Helfer zu finden“, sagt Uwe Sommer. „Die jungen Leute wollen alle Hightech und Action.“ Da habe die Deichwacht einfach zu wenig zu bieten. Mit einer neuen Unterkunft könnte sich das jedoch ändern. Der Neubau in Finkenriek sollte eine Terrasse bekommen, die etwa für Grillfeste genutzt werden könnte. Der neue Treffpunkt würde auch mehr Platz für eine gute Jugendarbeit bieten, sagen die Deichwächter. Doch ohne die Mitwirkung der Stadt sehen sie für ihre Zukunft Schwarz. Wolfgang Czepoks bringt es auf den Punkt: „Es wird dann bald keine Deichwacht mehr geben.“

von Annabel Trautwein

 

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Kommentare

2 Antworten zu „Verlorener Posten? Wilhelmsburger Deichwacht fürchtet um ihre Existenz“

  1. Avatar von Jens Matysik
    Jens Matysik

    Es ist schon eine Schande wie mi der Deichwacht umgegangen wird. Wer sich an 1962 erinnert oder sogar dabei war ( ich war 4 Jahre alt ), der müßte sofort bitter böse Briefe, Postkarten , Mails an den Bezirk-Mitte oder direkt an den Bürgermeister Olaf Scholz schreiben und um Vernunft der Regierenden ( SPD ) bitten.

    Aber leider tut es ja keine und läßt die Deichwacht im Regen stehen. Hoffentlich rächt sich das nicht eines Tages an der Wilhelmsburger Bevölkerung… liebe SPD..!

     

  2. Avatar von Holger Witt
    Holger Witt

    Vielen Dank für den freundlichen Artikel über die Deichwacht Wihelmsburg.

    Meines Erachtens ist aber der Notwendigkeit für unsere neue Unterkunft in Finkenriek zu wenig Beachtung gegeben. Als stellvertretender Ortsbeauftragter der Deichwacht Wilhelmsburg möchte ich deshalb noch ein paar klärende Punkte nachführen.

     

    1. Die Größe der Unterkunft.

    Bislang haben aus Platzgründen eine erhebliche Anzahl der Helfer ihre Ausrüstung zu Hause. In der neuen Unterkunft wird genügend Platz vorhanden sein, dass jeder Helfer seinen eigenen Spint erhält. Somit entfällt bei einer Alarmierung am Arbeitsplatz der Umweg, um die Ausrüstung zu holen. Also eine erheblich schnellere Einsatzbereitschaft der Helfer.

     

    2. Die räumlich Zusammenlegung mit dem Deichverteidigungslager.

    Dadurch ist eine flexiblere Einteilung der Einsatzkräfte möglich.

     

    3. Bessere, neuere Sanitäranlagen

    Zur Zeit stehen uns Sanitäranlagen, die wohl zuletzt in den 50er-Jahren renoviert wurden, nach einem Einsatz zur Verfügung.

     

    4. Technische Ausstattung

    In unserer bisherigen Unterkunft steht uns nur eine veraltete Telefonanlage, die zur Zeit einige Mängel beinhaltet, zur Verfügung.

     

    Ich weiß nicht, ob diese Wintersaison Wasserstände erreicht werden, die eine Alarmierung  notwendig machen. Aber wenn es sein sollte, wollen wir auch so effektiv wie möglich sein. Daher benötigen wir schnellstens diese neue Unterkunft.

     

    Holger Witt

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