Ausflüge nach Woandershin

Zahlreiche Künstler engagieren sich seit September 2014 für ein Projekt in Wilhelmsburg, um zusammen mit jugendlichen Schülern der Stadtteilschule Wilhelmsburg neue Räume zu erschließen. Veranstaltet werden die "Ausflüge nach Woandershin" vom Verein "Stadt Kunst Gesellschaft". Sie finden noch bis Juni 2015 statt, bevor die Schülerinnen und Schüler ihre gestalteten Objekte und Bilder in einer gemeinsamen Ausstellung auf der Schute an der Honigfabrik präsentieren.

Die Jugendlichen sollen nicht nur aus ihrer gewohnten Umgebung herauskommen, sondern auch durch die Arbeit mit unterschiedlichen Künstlern und Materialien ihre Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten erweitern. Dafür machen sich die Teilnehmer an jeweils zwei Wochenenden mit einem Künstler auf den Weg in einen anderen Stadtteil und lernen eine neue Kunstform kennen. Die weitere Bearbeitung der Objekte erfolgt dann auf dem Schiff Schute in Wilhelmsburg. Im günstigsten Fall sollen sie es auf diese Weise schaffen, Skepsis zu überwinden und ihr Selbstvertrauen zu stärken. Projektinitiatorin Ute Vorkoeper war es besonders wichtig, dass die teilnehmenden Künstler nicht nur ein breites Altersspektrum abdecken, sondern auch aus unterschiedlichen Bereichen kommen. So gehören Fotografie und Bildhauerei ebenso zu den Kunstformen wie Zeichnen, Videoinstallationen und Performance.

"Ich glaube nicht, dass wir Probleme durch ein Kunstprojekt radikal ändern können", beschreibt Ute Vorkoeper den Ansatz von 'Ausflüge nach Woandershin'. "Aber was wir machen können, ist die Wahrnehmung der Jugendlichen für bestimmte Bereiche zu schärfen und ihren Artikulationsmöglichkeiten etwas hinzuzufügen." Dabei sei auch die Loslösung vom Unterricht ein wichtiges Element: "Die Ausflüge haben den Vorteil, dass sie nicht an Lernziele gebunden sind, sondern im Ergebnis offener. Diese Freiheit ist auch wichtig, da so ganz andere Ergebnisse möglich sind als an einer Schule."

Verschiedene Darstellungsformen für das Wahrnehmen von Raum

In Stadtteilen mit hohem Migrationshintergrund wie Wilhelmsburg ist es häufig der Fall, dass Jugendliche nicht über einen bestimmten Radius rund um ihr Wohnhaus hinauskommen – oftmals betrage dieser nur zwei Kilometer. Neben der Vermittlung von Kunst als Ausdrucksform war es das Anliegen der Veranstalterinnen, die Jugendlichen mit anderen Teilen ihrer Stadt vertraut zu machen.

Damit haben die Kuratorinnen von "Woandershin", Ute Vorkoeper und Corinna Koch, bereits Erfahrungen gesammelt. So hatte die von Ute Vorkoeper und Andrea Knobloch betriebene "Akademie einer anderen Stadt" vor einiger Zeit eine Aktion ins Leben gerufen, bei der das Gymnasium Allee aus Altona und das Gymnasium Wilhelmsburg eine Röhre des alten Elbtunnels mit Wandbildern aufeinander zukommend gestalteten. Auch damals stellte das Projekt eine Schnittstelle zur kulturellen Bildung dar; doch wo bei den Wandbildern noch die Idee im Vordergrund stand, eine Reflexion der eigenen Heimat in der Stadt anzustoßen und eine Begegnung zwischen Jugendlichen aus unterschiedlichen Stadtteilen zu ermöglichen, geht es bei den "Ausflügen nach Woandershin" vor allem darum, den Lebensraum und das Gestaltungsspektrum der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu öffnen und zu erweitern.

"Der Ansatz bringt einen zum Nachdenken", sagt auch Bildhauer Axel Loytved, der einen der Ausflüge organisiert und begleitet hat. "Als Künstler ist man tendenziell schon mehr unterwegs, macht Projekte und Ausstellungen an unterschiedlichen Orten. Dabei sind Themen wie 'Was ist zu Hause' und 'Wo geht es hin' immer präsent." Er musste nicht lange überlegen, ob er bei den Ausflügen mitmachen will, aber stand schnell vor Fragen wie: "Wo fängt man an? Wie vermittelt man den Jugendlichen den Ansatz in einem so kurzen Zeitraum? Welches Vorwissen bringen die Jugendlichen mit?"

Daran hat Gundi Wiemer einen großen Anteil, die an der Stadtteilschule Wilhelmsburg als Kunstpädagogin arbeitet. Sie ist gleichzeitig auch Mitglied beim Verein "Stadt Kunst Gesellschaft e.V." und hat es geschafft, Schüler und Eltern für die freiwillige Teilnahme an dem Projekt "Woandershin" zu begeistern. Ihrem Engagement an der Schule ist es auch zu verdanken, dass die Jugendlichen mit vielen Bereichen des kreativen Schaffens bereits vertraut sind. "Ich war positiv überrascht, dass sie ein prozessorientiertes künstlerisches Arbeiten schon kannten", beschreibt Axel Loytved seine ersten Erfahrungen mit der Gruppe. Bei seinen Ausflügen sollten die Jugendlichen Papier in verschiedensten Formen sammeln, um daraus später auf der Schute neue Objekte entstehen zu lassen.

Selbstbewusste Jugendliche

"Ich wollte es vermeiden, dass der Ausflug zu einer reinen 'Müllsammelaktion' im Park wird, sondern das Augenmerk der Jugendlichen darauf richten, verschiedenste Formen von Material zu finden", sagt Axel Loytved. "Solches gibt es an vielen Orten, zum Beispiel in Form von abgerissenen Plakatwänden, Flyern oder Gratis-Magazinen in Geschäften." Deshalb wählte er als Viertel eher innerstädtische Bereiche aus – seine Ausflüge gingen ins Schanzenviertel und am darauf folgenden Wochenende nach Altona. So konnten die Jugendlichen Orte wie ein Einkaufszentrum, die in ihrer alltäglichen Welt vorkommen, aus einer neuen Perspektive erleben: auf der Suche nach einem bestimmten Material und nicht nach dem günstigsten Preis. Einen Aha-Moment gab es laut dem Künstler für die Gruppe am letzten Ausflugstag: "Am Altonaer Balkon zu stehen und zu sehen, wie nahe Wilhelmsburg eigentlich ist."

Mit dem Aktionskünstler Dan Thy Nguyen lasen die Jugendlichen im September unter anderem Gedichte an öffentlichen Orten wie S-Bahn-Haltestellen. Dabei wurde auch deutlich, dass die anfänglichen Berührungsängste mit dem Medium schnell verschwunden waren und einer selbstbewussten Präsentation wichen. Mit Stefanie Becker und Alexander Rischer ging es dann im Oktober zum Fotografieren in den Hafen und in den Sachsenwald. Den Abschluss der ersten Hälfte des Projekts machte dann Axel Loytved mit der Umformung von gefundenem Papier in neue Objekte.

Nach dem Ende des Winters, der sowohl die Ausflüge selbst als auch das Arbeiten auf der Schute erschwerte, geht es nun im April zunächst mit Fotografie weiter. Dann folgt im Mai als Kunstform Zeichnen mit Linda McCue, bevor im Juni mit Cordula Dietz Stadtmusikvideos gedreht werden sollen. Den Abschluss des Projekts soll dann am 12. und 13. Juni eine gemeinsame Ausstellung darstellen, auf der die Jugendlichen ihr Werke präsentieren. Zudem soll eine kleine Publikation entstehen, damit die Jugendlichen einerseits ein Ergebnis in der Hand haben – und andererseits vielleicht die eine oder der andere einen Anreiz erhält, sich weiterhin künstlerisch zu betätigen.

Finanziert werden die Ausflüge von verschiedenen Stiftungen und dem Fonds Soziokultur, sodass insgesamt rund 17.000 Euro zusammenkamen. Die sind auch erforderlich, um das Projekt zu ermöglichen – denn einerseits sind Aktionen im öffentlichen Raum vergleichsweise teuer, Material- und Versicherungskosten fallen an, zum anderen sollen die Künstlerinnen und Künstler für ihre Arbeit auch angemessen entlohnt werden. Außerdem sollen am Ende alle Beteiligten und Interessenten auch etwas mitnehmen können: eine kleine Katalogbroschüre, die ihre Arbeit dokumentiert. Ute Vorkoeper kann sich zwar vorstellen, das Projekt auch in anderen Stadtteilen zu wiederholen; ob dies gelingt, hängt aber vor allem davon ab, ob die Finanzierung gesichert ist. Zudem würde sie gerne – natürlich über gemeinsame Kunstprojekte – den Austausch zwischen Jugendlichen aus verschiedenen Stadtgebieten fördern, möglichst über einen längeren Zeitraum, sodass sich die Jugendlichen dabei auch wirklich kennenlernen können.

von Michael Keller

 

Tipp:

Die Kunstwerke der Jugendlichen sind am Freitag und Samstag, 12. und 13. Juni, in der Honigfabrik zu sehen.

 

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