Mehrere tausend Menschen gingen am Mittwoch in Wilhelmsburg auf die Straße – gut gelaunt, kurzärmelig und begleitet von bunten Wagen und Musik. Dabei ging es beim Euromayday um ernste Probleme: zu hohe Mieten, zu wenig Platz für alle und zu viel Kommerz in der Stadt. Protest regt sich in Wilhelmsburg genauso wie auf dem Kiez oder in der Schanze – deshalb erklärten sich die Demonstranten des Euromayday nun „Reif für die Insel“. Sie zogen von St. Pauli bis vor den Zaun der internationalen gartenschau (igs) in Wilhelmsburg, wo sie freien Eintritt für alle verlangten. Doch daraus wurde nichts: Nachdem einige den Zaun überwunden und stellenweise geöffnet hatten, hielt die Polizei die Demonstranten mit Schlagstöcken und Pfefferspray auf Abstand.
Seifenblasen, Glitzerkonfetti und ein Chor aus Megafonen schweben durch die Menschenmenge, die sich auf dem warmen Pflaster des Stübenplatzes ausbreitet. „Auf dem Dach, da haben wir noch viel Platz!“, rufen die Stimmen des Megafon-Chors. Auf dem Boden wird es immer enger. Der Bus Nummer 13 spuckt einen weiteren Schwall dekorierter Leute auf den Platz, aus dem Hafen treffen Radfahrer aus St. Pauli ein, Frauen, Männer und Kinder von der Elbinsel mischen sich in die Menge. Wer in Wilhelmsburg wohnt und wer nicht ist nicht mehr erkennbar, den Menschen hier ist es auch egal. Was alle gemeinsam haben, ist ihr Ärger auf die Freie und Hansestadt Hamburg, die sich immer weniger wie das anfühlt, was sie sein soll: ihre Stadt.
„Wohnen in unseren Vierteln in Hamburg ist immer teurer geworden“, sagt Ole, der den Euromayday mit organisiert. „Viele können sich das ganz platt nicht mehr leisten. Wir fragen: Woher kommt das? Und muss das so sein?“ Begonnen habe der Euromayday einer von vielen Protestzügen, die traditionell am ersten Mai in ganz Europa die Straßen entlangziehen. Heute gehe vor allem um Probleme mit der Stadt vor der eigenen Haustür. Dazu zählen für den Euromayday auch Großprojekte wie IBA und igs – Maßnahmen, mit denen Hamburg umgestaltet werden soll. Auch sie tragen dazu bei, dass Menschen nach und nach vom Leben in ihrer eigenen Stadt ausgeschlossen werden, sagt Ole. Ob das in Wilhelmsburg, Billstedt oder St. Pauli geschieht, ist für ihn nicht entscheidend. „Wir suchen Verstärkung, wir wollen gucken und fragen, wie es anderen geht“, sagt er. Gemeinsam auf der Straße feiern und Probleme offen ansprechen – das ist das Ziel, sagt Ole.
Bunt und laut durch die Nachbarschaft
Daran wollen viele Gruppen und Einzelpersonen mitwirken. Der Verein Jugend ohne Grenzen, in dem sich junge Menschen für Flüchtlinge einsetzen, ist mit einem eigenen Wagen vertreten. Die Initiative S.O.S. St. Pauli hat auch einen Wagen geschmückt, Mitglieder der Kampagne HVV umsonst sind mit Bus und Bahn angereist. Auch aus Wilhelmsburg sind viele Aktivisten dabei, etwa aus der Bürogemeinschaft in den alten Zinnwerken, die für ein Bürgerbegehren zum Erhalt des Gebäudes wirbt. Flyer gehen von Hand zu Hand, werben für Kongresse, für das Umverteilen von Reichtum oder für einen Besuch auf dem igs-Gelände, ohne dafür Eintritt zu zahlen.
Bunt und laut windet sich die Euromayday-Parade durch das Reiherstiegviertel. Ein Anwohner am Stübenplatz beschimpft die Demonstranten von seinem Balkon aus, die meisten aber schauen zu und freuen sich, dass so viele auf die Straße gehen. „Mehr bezahlbare Wohnungen? Das wäre angebracht“, findet ein Kioskbetreiber. „Unrecht machen, das bringt nichts“, sagt sein Nachbar, der seit 33 Jahren in Wilhelmsburg lebt. „Aber protestieren – das ja. Das ist menschliches Recht!“ Als der Zug die Veringstraße entlangzieht, filmen einige Anwohner mit ihren Handys. Auch am Rotenhäuser Damm und an der Rotenhäuser Straße schauen viele vom Fenster oder Balkon aus zu. „Ich wohne seit 40 Jahren in der gleichen Wohnung“, erzählt eine ältere Frau am Rand der Neuhöfer Straße. „Das ist nicht schön. Aber SAGA sagt, es gibt keine neuen Wohnungen.“ Dass der Euromayday auch in Wilhelmsburg gegen Wohnungsnot demonstriert, findet sie gut, sagt sie. In der Hand hält sie das Faltblatt mit dem Maulwurf, dem Wappentier der Demo 2013.
Über die ganze Straßenbreite biegt die Parade in die Mengestraße ein. Nach Angaben der Veranstalter sind es rund 3000 Menschen, die Polizei geht von 1000 aus. Von den Beamten ist nicht viel zu sehen – bis einige Demonstranten über den Zaun zum igs-Gelände klettern und Teile des Gitters aufbiegen. Mehrere Dutzend Leute entwischen in den Park, vor dem Zaun kommt es zu einer kurzen Rangelei zwischen Demonstranten und Polizisten. Die meisten Menschen laufen weiter und kümmern sich nicht um den Aufruhr.
"Warum soll man jetzt hier nicht so reingehen können?"
Oben an der Rampe zum igs-Eingang hat sich unterdessen ein Grüppchen mit selbstgebastelten Glitzerkostümen aufgestellt – der 41. Spielmannszug, der die 40 Spielmannszüge auf dem igs-Gelände von der anderen Seite des Zauns her unterstützen will. „Warum soll man jetzt hier nicht so reingehen können?“, fragen dutzende Stimmen, zum Teil verstärkt durch die Lautsprecher des Megafon-Chors. „Eintritt frei für alle!“ Langsam rückt der bunte Zug auf das Tor zum Park zu. An den Kassenhäuschen gehen die Rollladen runter. „Der Park war mal für alle da!“ – „Warum soll man jetzt hier nicht so reingehen können?“ Unten am Zaun stehen Polizisten.
Näher und näher rückt der Spielmannszug, die Stimmen werden lauter. Dicht an den Helmen und gepanzerten Uniformen der Polizei laufen die Spielleute entlang, hinter ihnen eine Menschenmenge. Der Sprechchor tönt wie eine Endlosschleife. „Wir wollen rein!“ ruft jemand in den Takt. „Der Park gehört den Menschen, sie haben ihn bezahlt.“ Demonstranten drängen an den Zaun, Polizisten drängen zurück, es kommt zur Rangelei. Ein Trupp mit weißen Helmen stürmt in die Menge. „Haut ab! Haut ab!“, tönt es aus der Demo. „Wir sind friedlich – was seid ihr?“ Hinter dem Zaun hat die Polizei zwei junge Mädchen in Gewahrsam genommen, davor wird es immer enger. Die Polizisten ziehen sich zurück. Als einige Leute am Zaun zu rütteln beginnen, schlagen sie mit ihren Stöcken die Hände von den Gitterstäben. Pfefferspray trifft die, die nicht rechtzeitig weg sind, mitten ins Gesicht. Einige Demonstranten reißen Blumen aus Kübeln und werfen sie über den Zaun auf die Polizisten. Durch die Gitterstäbe schießen Strahlen von Pfefferspray zurück.
Nach einer Weile sind die Fronten geklärt. Die Demonstranten räumen den Platz, die Polizisten halten die Stellung, um den igs-Zaun zu sichern. Die Musik der feiernden Menschen vor dem S-Bahnhof Wilhelmsburg ist wieder zu hören, die Rollladen der Kassenhäuschen gehen wieder auf. Aufs Gelände dürfen die Menschen nun wieder. Kostenlos aber nicht.
von Annabel Trautwein
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