Derya Yildirim schlägt zwei Saiten an und lauscht dem feinen, schwingenden Ton ihrer Saz. Sie stimmt nach, zupft erneut, nimmt die nächsten zwei Saiten dazu. Auf einmal erwachen die Klänge zum Leben, tänzeln durch das Wohnzimmer. Deryas Finger pochen auf das abgegriffene Holz, wie ein Herzschlag begleiten sie den majestätischen Rhythmus. Dann lässt sie ihre Stimme emporwachsen, der klare Gesang überflügelt die Saz. Leicht und verspielt wirkt das Lied, obwohl es von Kämpfen und Revolution erzählt. Derya streicht die letzten Töne von den Saiten und lacht. „Das ist türkische Volksmusik“, sagt sie.
Die schlichte Saz mit der aufgerauhten Stelle unter den Saiten ist eine ihrer Lieblinge. Derya Yildirim hat die freie Auswahl: Gitarren hängen griffbereit an der Wohnzimmerwand, daneben verschiedene Exemplare der bauchigen, langhalsigen Saz. Auch eine kunstvoll verzierte Ud mit kurzem Hals und geneigtem Kopf sowie ein Saiteninstrument aus Metall, die Cümbüs, stehen zu ihrer Verfügung. Ihr Vater baut hin und wieder auch Saiteninstrumente selbst, Eigenkreationen mit doppeltem Bauch und zwei Hälsen. Hauptsächlich spielt Derya aber ihr Saxofon und vor allem das Klavier, auf dem auch ihre jüngeren Brüder Gök Deniz und Jakubhan üben. „Wir sind alle mit dem Klavier aufgewachsen“, sagt sie. Besonders ihrem Vater sei es wichtig, dass seine Kinder mehrere Instrumente erlernen – obwohl er selbst nie Unterricht hatte. „Er hat alles in uns investiert“, sagt seine Tochter. Am Samstag bei 48 h Wilhelmsburg wird Mustafa Yildirim merken, was er davon hat: Vater und Tochter treten zusammen auf, sie spielen türkische Volkslieder in eigenen Arrangements für Saz und Gitarre.
Derya Yildirim hat hohe Erwartungen zu erfüllen, vor allem ihre eigenen. Das Abitur ist geschafft, jetzt will die 19-Jährige ihre Leidenschaft zum Beruf machen: als Lehrerin für Musik und Deutsch. „Mir ist klar geworden, dass es mir Spaß macht, anderen etwas beizubringen“, sagt sie. In der Gesamtschule Kirchdorf leitete sie Workshops, auch beim Schülercampus der Zeit-Stiftung unter dem Motto „Mehr Migranten werden Lehrer“ machte sie mit. Um die Aufnahmeprüfung an der Hochschule für Musik und Theater zu schaffen, bewarb sie sich um eine studienvorbereitende Ausbildung und wurde genommen. „Das war quasi meine Eintrittskarte“, sagt Derya. Zur Aufnahmeprüfung an der Hochschule für Musik und Theater brachte sie die Ud mit, das klassische Instrument für türkische Kunstmusik. „Das macht natürlich einen tollen Eindruck – so bin ich wieder anders als die anderen“, sagt Derya Yildirim. Die Instrumentalprüfung bestand sie mit Bestnote. Fassen könne sie das immer noch nicht.
Musik als Sprache beider Heimaten
Trotz der vielen Prüfungen bleibt Musik ihre große Leidenschaft. „Ich habe keine anderen Hobbys“, sagt Derya – abgesehen von Hausaufgabenhilfe und ihren Nebenjob beim Deutschen Roten Kreuz. Sie höre sich nicht einmal die Musik anderer mit besonderer Vorliebe an. „Es klingt vielleicht eingebildet, aber ich höre mich einfach gerne selbst“, sagt sie. Das Üben gehört für sie zum Alltag. Wenn sie nach Hause komme, müsse sie nicht den Fernseher anmachen, sagt Derya. „Ich habe ja tausend Instrumente, die mich angucken.“
Am liebsten spielt sie traditionelle türkische Musik, „oder echt hardcore Kunstmusik“, wie sie sagt. Auch wenn sie am Klavier in der europäischen Klassik zu Hause ist – die Lieder aus der Türkei bleiben ihr eine Herzensangelegenheit. „Ich finde, das gehört zu mir dazu. Die türkische Musik ist eine Heimat für mich“, sagt sie. Die andere Heimat sind Deutschland und die europäische Musik, mit der sie aufgewachsen ist. In zwei Kulturen zu Hause zu sein, das sei auch anstrengend, sagt Derya Yildirim. „Manchmal möchte man einfach nur das eine sein.“ Beim Spielen und Singen sei das anders. „Musik ist eine andere Sprache“, sagt sie. „Eine Kultur, die beides miteinander vereint, ohne dass man streiten oder diskutieren muss.“
von Annabel Trautwein
48h Wilhelmsburg
8.6.2013, 13.30 Uhr, Fährstraße 69 (Kaffeeliebe)
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