Wilhelmsburg feiert die Liebe zum Kanal

Eine Arie vom Dach der alten Zinnwerke – so viel Oper am Veringkanal darf schon sein, dachten sich die Macher von „Kanal und Liebe“, als sie die Sängerin Judith Tellado zur Eröffnung ihres Sommerfests einluden. Hochkultur von oben herab? Die vielen engagierten Menschen rund um die Zinnwerke zeigten, dass es auch anders geht. Sie erklärten ihren Gästen die Geschichte der Wilhelmsburger Industrie und die Bedeutung des Kanals, sie luden ein zum Bummel durch die sprießende Kreativszene und boten Stadtteilkultur aus erster Hand. Auch die Politikerinnen und Politiker in Hamburg sollten merken: Das Kanalufer ist wertvoll für Wilhelmsburg – zu wertvoll, um es einem Neubau für den Opernfundus zu opfern.

Kino, Biomarkt, mehr Vielfalt für alle: Ideen gäbe es genug für das Areal Am Veringhof, wie die Wunschliste auf einer Tafel vor den Zinnwerken zeigte. Auch weniger ernste Vorschläge („Transrapidbahn“) waren erlaubt, schließlich sollte das Fest in erster Linie Spaß machen. Dafür waren viele zu haben: Allein auf dem Gelände rund um die Zinnwerke machten mehr als ein Dutzend Kulturinstitutionen, Firmen und Freundeskreise aus Wilhelmsburg mit, um die Vielfalt am Veringkanal zu feiern.

Sie führten geschichtsinteressierte Menschen durch die alten Werkshallen, boten auf dem Flohmarkt eingetanzte Stöckelschuhe, Räucherstäbchenhalter, Kühlschrankmagneten und Brettspiele feil. Manche schminkten Nachbarskinder, andere versorgten die Gäste mit kühlen Drinks und türkischem Gebäck aus heimischer Küche. Die Nordwandhalle stellte einen neun Meter hohen Kletterturm auf, den Kinder und Erwachsene unter dem inoffiziellen Motto „Erklimme den halben Opernfundus“ bezwingen durften. Mit einem Kräuterquiz und botanischer Kunst für den eigenen Anbau warben der Interkulturelle Garten und die Parzelle 43 für ihre Liebe zur Natur. Das bunte Treiben zog nicht nur hunderte Kinder und Erwachsene aus dem Viertel an – auch spontane Auftritte wie das Konzert des Folksängers Jack Morgan, der gerade in der Gegend war, bereicherten das Programm. Um auch Daheimgebliebene live teilhaben zu lassen, rückte das Inselradio mit einer mobilen Sendestation an.

Viele Mitmacher auf dem Fest griffen die aktuelle Lage der Zinnwerke auf, die laut Senatsbeschluss einem Neubau für den Opernfundus weichen sollen. Bei einem historischen Spaziergang am Kanalufer etwa wurde klar: Streit und Kampf um Arbeitsplätze begleitete die Geschichte der Wilhelmsburger Industrie, seit Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Fabriken am Veringkanal gebaut wurden. Eindrucksvoll erzählten Margret Markert und Ben Soyka von der Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg und Hafen von Aufständen der Zinn-Arbeiter und von rassistischer Hetze gegen vermeintlich ausländische Arbeiter, die um die Jahrhundertwende in Wilhelmsburg nicht willkommen waren. Politisch Flagge zeigen konnten die Gäste auch am Siebdruckstand: Dort gab es den Slogan „Zinn macht Sinn“ direkt aufs T-Shirt oder auf fertig bedruckten Jutetaschen, die das Team von Black Ferry in der Fährstraße angefertigt hatte.

Mieter am Kanal nach wie vor unter Druck

„Ich habe große Lust, das nächstes Jahr wieder zu machen“, sagte Marco Antonio Reyes Loredo, Hauptmieter in den Zinnwerken. Das Fest sei trotz zwischenzeitlichem Regenguss völlig stressfrei verlaufen – wenngleich es unter extremem Druck geplant werden musste. „Wir machen das hier ja alles vor dem Hintergrund der Bedrohung“, sagte er. Dass die Mieter den Aufschub ihrer Kündigungsfristen bis Ende September inzwischen schriftlich haben, ändere daran wenig. „Länger hierbleiben finde ich immer gut“, sagt Reyes Loredo, „aber den Zwischenschritt hätten wir uns auch sparen können.“

Dass der Aufschub nur eine Zwischenlösung sein kann, darin waren sich auch die Runde bei der „politischen Kaffeeklatsche“ einig. Vor allem könne es nicht sein, dass der Senat einfach über Wilhelmsburg verfüge, sagten die Abgeordneten Herlind Gundelach (CDU), Jutta Kodrzynski (Grüne), Angela Westfehling (FDP), Ronald Wilken (Linke) und Metin Hakverdi (SPD). Auch bei der Suche nach anderen möglichen Standorten für den Opernfundus müssten die Bürger mitreden dürfen, mahnte Kodrzynski an. Genau das sei auch vorgesehen, sagte Metin Hakverdi, der einzige Landespolitiker der Runde. Alle Betroffenen einzubinden, sei jedoch keine leichte Aufgabe. „Wir doktern daran herum.“

Das Publikum bei der „Kaffeeklatsche“ wollte das nicht allein den gewählten Politikern überlassen. Was Wilhelmsburg gut tue und was nicht, sollte gemeinsam mit Menschen aus dem Stadtteil und über Parteigrenzen hinweg geklärt werden, schlug ein junger Mann vor. „Wir haben bei vielen Projekten eine wirtschaftliche Brille auf“, kritisierte er. Ein anderer Wilhelmsburger stimmte ihm zu: Die Kulturszene am Veringkanal sei ein wichtiges Ventil für den Stadtteil. „Wenn alles zusaniert ist, dann sehnt man sich nach solchen Orten“, sagte er. Es gebe viele Wege, sich politisch zu engagieren, warf der Blogger Raimund Samson ein und fügte hinzu: „Hier ist der Ort, an dem man das kreativ machen kann.“

von Annabel Trautwein

Foto von Nils Moje

 

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