Vielfalt – das ist das Zauberwort im IBA-Weltquartier. Hier soll das Zusammenleben der vielen Nationen in Wilhelmsburg spürbar sein, und zwar möglichst mit allen Sinnen. Deshalb gibt es bei der Ausstellung im Pavillon an der Weimarer Straße nicht nur Bilder, Worte und Zahlen, sondern auch einen Mittagstisch der Nationalgerichte. Die IBA feiert den „Migrationshintergrund“ der Menschen im Quartier: Er soll hier nicht mehr als Problemfaktor gelten, sondern als sozialer Reichtum. Manche Wilhelmsburger ausländischer Herkunft fürchten trotzdem, dass der Wandel auf ihre Kosten geht.
Es gibt Borschtsch. Russland ist diese Woche an der Reihe, beziehungsweise Frau Schmidke. Ihren Vornamen behält sie lieber für sich – im Gegensatz zu der Kohlsuppe mit roten Beeten, Kartoffeln und Tomaten, die auf dem Herd in der frisch eingerichteten Küche des Pavillons köchelt. „Borschtsch ist typisch für Russland“, sagt sie.
Frau Schmidke kommt aus Russland, aber wo ihre Heimat sein soll, bestimmten oft andere. Ihre Vorfahren wanderten aus Deutschland ins Zarenreich aus und blieben dort fremd – sechs Generationen lang. Ihre Schwiegermutter habe sie nach allen Anstandsregeln in der Familie aufgenommen, erzählt Frau Schmidke. „Aber sie sagte mir auch: Ich werde nicht vergessen, dass du Deutsche bist.“ Heute, in Wilhelmsburg, ist sie die Russin und kocht Borschtsch als Zeichen der kulturellen Vielfalt. Sie lacht darüber.
Frau Schmidke will nicht weg
Seit 15 Jahren wohnt Frau Schmidke auf der Elbinsel. „Ich habe noch nirgendwo so lange gelebt wie hier“, sagt sie. Jetzt fürchtet sie, dass sie nicht länger bleiben kann. „Ich liebe mein Wilhelmsburg“, sagt sie. Umziehen wolle sie auf keinen Fall. „Aber ich muss.“ Seit ihre Kinder in anderen Städten studieren und ihre Mutter nicht mehr lebt, sucht sie eine kleinere Wohnung. „Es ist so schwer, hier in Wilhelmsburg etwas zu finden“, sagt sie.
Hinter dem Aushängeschild „Vielfalt“ scheint es eng zu werden im Reiherstiegviertel. Viele befürchten, dass es für Menschen mit wenig Geld im neuen Stadtteil keinen Platz mehr geben wird. Auch davon erzählt die Ausstellung „Die vielen Gesichter des Reiherstiegviertels“, die die IBA gemeinsam mit der SAGA GWG im Pavillon zeigt. „Viele aus der zweiten Einwanderergeneration sind weggezogen“, heißt es in einem Zitat der Pastorin Friederike Raum-Blöcher. „Ich befürchte, dass in Hamburg noch mehr ärmere Leute in die Randviertel gedrängt werden. Zurzeit ist es für Frauen mit Kopftuch oder Schwarze ganz schwer, hier eine Wohnung zu bekommen.“ Auch der Wilhelmsburger A. Seckin Demirtas äußert sich skeptisch: „Ich vermute, hier soll eine Mittelschicht 'gebaut' werden. Ich habe nichts gegen die Mittelschicht, aber das Reiherstiegviertel soll nicht wie die Schanze seine Farbe verlieren.“
René Reckschwardt, Projektkoordinator des Weltquartiers bei der IBA, ist zuversichtlicher. Von den fast 40 Nationen, die vor dem Umbau des Weltquartiers dort lebten, seien zwar heute nur rund 25 Nationen übrig. Aber es sei auch fast die Hälfte der Wohnungen noch leer. „Am Ende werden es wieder knapp unter 40 sein, so wie früher“, sagt Reckschwardt. Sollten sich Menschen entscheiden, nicht ins Weltquartier zurück zu kehren, liege das wohl nicht an den Mietpreisen. Alle zwei Jahre 15 Cent mehr pro Quadratmeter – höher sollen die Mieten in den kommenden 30 Jahren nicht steigen. „Dann zahle ich hier immer noch weniger als 9 Euro kalt“, sagt der Projektkoordinator. Zwar seien viele Wohnungen größer und deshalb teurer als früher, doch größere Wohnungen würden auch gebraucht. „Die Gesamtzahl wird ein wenig sinken“, räumt René Reckschwardt ein. „Aber es gibt hier definitiv noch Wohnungen.“ Um eine davon will sich Frau Schmidke bemühen. Skeptisch bleibt sie trotzdem. „Ich merke schon, dass Wilhelmsburg sich verändert“, sagt sie. Auch viele ihrer Kollegen und Bekannten hätten Probleme bei der Wohnungssuche. „Die Realität ist, dass die Preise steigen. Egal, was die Politiker sagen.“
Krankenschwester mit Wirtschafts-Diplom
Frau Schmidke arbeitet als Krankenschwester, obwohl sie einen Universitätsabschluss in Wirtschaft hat. Als sie nach Jahren der Flucht und Vertreibung aus Kasachstan, Tadschikistan und Russland nach Deutschland kam, wurde ihr Diplom nicht anerkannt. Auch ihre Brüder, beide Ingenieure, arbeiten unterqualifiziert in Deutschland. „Dieses Land schließt uns die Türen zu, das ärgert mich“, sagt Frau Schmidke. Trotzdem sei es für sie ein Privileg, in Deutschland wohnen zu können. Nirgends habe sie so sicher gelebt wie hier, wo sie ihre Kinder großgezogen hat, im Krankenhaus arbeitet und ehrenamtlich in der Elternschule. „Ich könnte diesem Land mehr geben“, sagt Frau Schmidke.
Zunächst einmal gibt sie Borschtsch. Sie macht es gern, auch wenn sie keine Lust hat, die Vorzeige-Russin zu sein. „Dann werde ich in eine Ecke gedrückt, und diese Ecke mag ich nicht“, sagt sie. Die Herkunft sollte gar nicht so wichtig sein, findet Frau Schmidke. Für das Image des Weltquartiers ist sie trotzdem entscheidend. „Hier gibt es im Gegensatz zu anderen Stadtteilen diese Vielfalt. Das wird natürlich gerne aufgegriffen“, sagt René Reckschwardt. Die Ausstellung im Pavillon sei besonders für Menschen ausländischer Herkunft gemacht, dreisprachig, mit vielen Bildern und wenig Text. Edith Dargel, die die Ausstellung für die IBA betreut, zählt trotzdem mehr Nicht-Wilhelmsburger als Besucher aus der Nachbarschaft.
von Annabel Trautwein
Tipp:
Mittwochs und freitags gibt es den internationalen Mittagstisch von 12.30 Uhr bis 13.30 Uhr im Pavillon Weimarer Straße 79. Das Essen kostet 3,50 Euro bis 4,50 Euro. Wer schon um 11.30 Uhr kommt und beim Kochen hilft, zahlt 1 Euro weniger.
Am Freitag, 19. Juli, gibt es wieder ein russisches Nationalgericht. Am Mittwoch, 24. Juli und Freitag, 26. Juli werden libysche Speisen angeboten.
Die Ausstellung „Die vielen Gesichter des Reiherstiegviertels“ ist noch bis Sonntag, 28. Juli zu sehen und täglich außer dienstags und samstags von 10.30 Uhr bis 18 Uhr geöffnet.
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