So nervös sei er noch vor keinem Wahlkampf-Auftritt gewesen, sagte der Grünen-Politiker Manuel Sarrazin nach der Gesprächsrunde am Freitag im Kirchdorfer Laurens-Janssen-Haus. Dort sollten die Politiker der Parteien Grüne, SPD, CDU, Linke und FDP erklären, wie sie sich im deutschen Parlament für die Menschen in Wilhelmsburg einsetzen wollen. Eigentlich eine gewöhnliche Aufgabe für die Direktkandidaten – doch so leicht wie sonst sollten sie es in Kirchdorf nicht haben. Denn diesmal sollten sie sich klar ausdrücken, ohne komplizierte Fremdwörter, Floskeln oder Fachausdrücke. Manuel Sarrazin, Herlind Gundelach (CDU), Astrid Siercke (FDP), Metin Hakverdi (SPD) und Sabine Boeddinghaus (Linke) schlugen sich tapfer – auch als die Wählerinnen und Wähler im vollbesetzten Saal sie mit kritischen Fragen löcherten.
Die Direktkandidaten der Parteien kamen alle mit demselben Ziel ins Laurens-Janssen-Haus: Sie wollten die Menschen in ihrem Wahlkreis, zu dem auch Wilhelmsburg gehört, davon überzeugen, dass sie deren Wünsche und Interessen besser vertreten können als die Politiker der anderen Parteien. Entscheidend für die Direktkandidaten ist das Kreuzchen für die Erststimme, das die Wählerinnen und Wähler auf ihren Stimmzettel setzen. Wer von ihnen am 22. September die meisten Erststimmen gesammelt hat, darf direkt in den Bundestag nach Berlin. Dort wollen sich Metin Hakverdi, Sabine Boeddinghaus, Herlind Gundelach und Manuel Sarrazin auf höchster Ebene für Wilhelmsburg stark machen. Astrid Siercke von der FDP will selbst auf anderem Wege nach Berlin, und zwar über die Zweitstimme. Sie steht für ihre Partei auf Platz 4 der Landesliste. Ob sie es in den Bundestag schafft, hängt davon ab, wie viele Hamburger ihre Zweitstimme der FDP geben. Die Partei hat auch einen Direktkandidaten: Kurt Duwe. Weil der es am Freitag nicht ins Laurens-Janssen-Haus schaffte, warb Astrid Siercke für ihn.
„Wer wählen geht, bestimmt mit in der Politik“, sagte Kesbana Klein vom Treffpunkt Kirchdorf-Süd. Gemeinsam mit engagierten Leuten aus weiteren Einrichtungen für Menschen mit und ohne Behinderung stellte sie die Info-Veranstaltung auf die Beine. Kesbana Klein erklärte in deutlicher Sprache, wie die Bundestagswahl am 22. September abläuft und was sie für die Menschen bedeutet. Worüber die Wählerinnen und Wähler abstimmen können, erläuterten die Politiker: Jeder hatte ein paar Minuten Zeit, um zu sagen, was seiner Partei besonders wichtig ist. Alle Menschen in Deutschland sollen die gleichen Chancen auf ein gutes Leben haben – im Ziel waren sich die Kandidaten aller Parteien einig. Den Weg jedoch stellte sich jeder auf seine Art vor.
Jede Partei hat ihren eigenen Weg zum Ziel
„Die, die den Staat brauchen, sollen sich auf seine Hilfe verlassen können“, erklärte Manuel Sarrazin von den Grünen. Hartz-IV-Empfänger etwa bekämen heute zu wenig Geld. Der Staat solle aber auch Kitas, Schulen und soziale Hilfsangebote stärker unterstützen. Außerdem wollen die Grünen laut Manuel Sarrazin für mehr Toleranz unter den Menschen sorgen und die Umwelt schützen – besonders bei der Stromherstellung. „Atomkraft ist gefährlich“, sagte der Grünen-Politiker. „Wir wollen, dass mehr Windkraft, Wasserkraft und andere Energien genutzt werden. Erneuerbare Energien nennen wir die.“
Chancen auf ein gutes Leben bietet vor allem Arbeit – so hat es die CDU immer gesehen, sagte Herlind Gundelach. „Ein Arbeitsplatz ist das allerwichtigste“, betonte sie. Auch Herlind Gundelach war der Meinung, dass Deutschland dazu gute Kitas, gute Schulen und gute Universitäten braucht. Die heutige Bundesregierung aus CDU, ihrer bayerischen Schwesterpartei CSU und FDP habe dafür schon viel getan, sagte Herlind Gundelach.
Astrid Siercke von der FDP sagte, ihre Partei setze sich dafür ein, dass „jeder, der arbeiten will, auch Arbeit bekommt“. Vollbeschäftigung sei das Ziel. Auch sie war der Meinung, dass die Bundesregierung schon auf einem guten Weg sei. Mit guter Bildung könne auch jeder Arbeit finden, meinte sie – deshalb sei es wichtig, dass etwa Schulen für alle barrierefrei erreichbar seien. Zudem sagte Astrid Siercke, dass die FDP für „gute Finanzpläne“ sorgen wolle. „In Europa brauchen wir gemeinsame Regeln für sicheres Geld“, sagte sie.
„Wir wollen das Land gerechter machen“, sagte der SPD-Politiker Metin Hakverdi. Das bedeute zum Beispiel, soziale Einrichtungen wie das Laurens-Janssen-Haus zu schützen und zu fördern. Im Hamburger Bezirk Mitte hätten SPD und Grüne bereits Geld dafür locker gemacht – für solche Vorhaben wolle er sich auch von Berlin aus stark machen, versprach Metin Hakverdi. Ein weiteres Beispiel, wo Deutschland gerechter werden sollte, sei das System der Krankenkassen. „Wir wollen, dass wieder alle die gleichen Leistungen beim Arzt bekommen“, sagte der SPD-Politiker.
Um Deutschland wirklich gerecht zu machen, ist nach Meinung der Linken-Politikerin Sabine Boeddinghaus noch viel mehr nötig. „Wir brauchen eine ganz andere Art von Politik“, sagte sie. Der Staat solle mehr auf die Menschen achten und weniger auf die Interessen von Unternehmen. Sabine Boeddinghaus vertrat die Meinung: Mehr Arbeitsplätze sind keine Lösung, wenn die Löhne und Gehälter zum Leben nicht ausreichten. Das Geld in Deutschland sollte anders verteilt werden, sagte die Direktkandidatin der Linken.
Wer soll das bezahlen?
„Ich hätte mal gerne von Ihnen gewusst, wie Sie das alles machen wollen!“ An dieser Frage einer Wilhelmsburgerin mussten sich die Politiker von Anfang an messen. Hohe Ziele haben mitunter einen hohen Preis – das war dem kritischen Publikum im Laurens-Janssen-Haus klar. Wer soll diesen Preis zahlen? Nicht die Bürgerinnen und Bürger, versprach die CDU-Kandidatin Herlind Gundelach. Die Firmen sollten aber auch nicht mehr abgeben müssen, meinte Astrid Siercke von der FDP. Ihre Begründung: „Sonst fehlt ihnen das Geld, um zu investieren.“ Metin Hakverdi sagte dagegen: „Wir fordern, dass den Menschen mehr Geld abgenommen wird.“ Die SPD wolle die Steuern erhöhen, jedoch nicht für alle. Nur, wer mehr als 200.000 Euro im Jahr verdiene, solle mehr davon für die Allgemeinheit abgeben – „also nur sehr, sehr reiche Menschen. Hier müsste keiner mehr Geld bezahlen“, versprach er der Runde in Kirchdorf-Süd.
Auch mit weiteren kritischen Fragen wurden die Kandidaten der fünf Parteien nicht geschont. Wie soll ein Ehepaar gemeinsam von 1000 Euro Rente leben, wenn einer von beiden schwerbehindert ist? Wieso finden ausländische Ingenieure in Deutschland keinen Job, wenn diese Fachleute so dringend gebraucht werden? Wieso sind immer noch so viele Wahllokale für Rollstuhlfahrer unerreichbar? Wo bekommt ein Obdachloser seine Wahlunterlagen her? Und wie stehen die Parteien zum Plan, die Stromnetze wieder zum Eigentum aller Hamburgerinnen und Hamburger zu machen?
Auf viele Fragen fanden die Politiker eine Antwort – mal mehr, mal weniger überzeugende, wie die Wählerinnen und Wähler meinten. „Die einen haben sich etwas konkreter ausgedrückt, andere labern einfach nur. Da fühle ich mich nicht ernst genommen“, kritisierte eine Wilhelmsburgerin. „Ich habe erst gedacht, ich bin in der Märchenstunde. Leben die überhaupt in derselben Welt wie ich?“, sagte eine junge Frau, die aus Harburg gekommen war. Das Versprechen von einer besseren Arbeitswelt überzeugte sie nicht ganz. „Aber sie haben einfach gesprochen, das fand ich gut.“ Eine Bekannte stimmte ihr zu: „In der Kürze der Zeit konnte man wirklich viel hören.“
von Annabel Trautwein
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