Ein Opernfundus am Wilhelmsburger Veringkanal kommt nicht mehr in Frage, die Mieterinnen und Mieter am Ostufer haben wieder gültige Mietverträge – wie geht es nun weiter am Kanal? Darüber diskutierten interessierte Menschen von der Insel beim „Pegelstand“ des Vereins Zukunft Elbinsel am Dienstagabend mit Christiane Tursi vom Verein Verikom und den Stadtplanern Prof. Bernd Kniess, Tom Lecke-Lopatta aus Bremen und Michael Ziehl. Bei der Debatte in der Tonne am Kanalufer wurde klar: Für die Zukunft am Veringkanal gibt es viele Ideen.
Viel Industrie und Hafenlogistik, große Flächen und immer wieder Kampf um Freiraum: So sieht die Gegenwart am Veringkanal aus. Dabei könnte das Areal längst besser genutzt werden, sagte Manuel Humburg vom Verein Zukunft Elbinsel – und zwar im Sinne des sozialen Wohnungsbaus. „Es gibt hier Platz für bezahlbaren Wohnraum“, erläuterte er in seinem Vortrag um Auftakt der Diskussionsrunde „Pegelstand“. Viele Menschen in Wilhelmsburg brauchten dringend eine günstige Wohnung, die Flächen am Ufer des Kanals seien geeignet – die Politik müsse sich nur dazu aufraffen, den Bebauungsplan zu ändern. Mischkonzepte, die Wohnen und Arbeiten am Kanal zuließen, habe es sogar schon gegeben. Sowohl der Senat als auch die Internationale Bauausstellung (IBA) liebäugelten vor einigen Jahren mit neuen Ideen für das Gebiet im Nordwesten der Insel. Doch passiert sei nichts, kritisierte Manuel Humburg. Stattdessen wuchsen neue Containerstapel in den Himmel und die Nordischen Ölwerke belasteten die Anwohner weiterhin mit Gestank.
Wohnungsnot spitzt sich zu
Der Bedarf an günstigen Wohnungen sei tatsächlich dramatisch, bestätigte Christiane Tursi vom Verein Verikom. In der Sozialberatungsstelle für Migranten werde spürbar, wie sich die Armut in Wilhelmsburg verschärft. Die Stadt wirke dem aber nicht entgegen, im Gegenteil: „Das Bauen für Reiche ist in der Stadtentwicklungspolitik Programm“, kritisierte Christiane Tursi. Auch die IBA habe sich nicht um die Probleme der Ärmeren in Wilhelmsburg gekümmert. Stattdessen nutzten Vermieter wie die Gagfah oder die städtische SAGA GWG die Wohnungsnot aus, indem sie ihre Häuser verkommen ließen oder bessergestellte Mieter bevorzugten. „Wir brauchen endlich eine Stadtentwicklungspolitik von unten und auch für unten“, sagte Christiane Tursi. Ob die Kanalufer dazu den passenden Raum böten, müsse erörtert werden – aber nicht ohne diejenigen, die die Sozialwohnungen am dringendsten benötigen.
Bei den Stadtplanern fand die Idee, den Bebauungsplan zu ändern und möglichst schnell Wohnungen zu bauen, nur bedingt Anklang. Tom Lecke-Lopatta aus Bremen wandte ein, ein solcher Plan könne nicht am Anfang, sondern nur am Ende einer Debatte stehen. Auch seine Kollegen warnten davor, die Zukunft am Veringkanal übers Knie zu brechen. Das Areal biete schon heute viele Vorzüge, die es behutsam weiter zu entwickeln gelte. Einer davon seien die kurzen Wege zwischen Wohn- und Arbeitsplatz, von denen bereits viele in Wilhelmsburg profitierten, sagte Michael Ziehl, der selbst nah am Veringkanal wohnt. Gleichzeitig schone es die Umwelt, wenn die Menschen etwa auf ein Auto verzichten könnten. Daher sei es sinnvoll, neben günstigen Wohnungen auch günstige Gewerberäume am Veringkanal zu schaffen – „aber bitte nicht nur für sogenannte Kreative, sondern für Kleinunternehmer allgemein“, sagte er. Das Areal biete auch gute Gelegenheiten für Testnutzungen, wie etwa das Projekt der mobilen Sauna auf dem Zinnwerke-Gelände im Frühjahr gezeigt habe. „Ich denke, dafür sollten wir uns Zeit lassen, auf Leitbilder verzichten und gemeinsam Perspektiven entwickeln“, empfahl Michael Ziehl.
Raum für Experimente
Auch Bernd Kniess, Professor für Städtebau und Urban Design, riet dazu, die Chance zum Experimentieren zu nutzen. Auch beim Thema Wohnen sei nicht immer der herkömmliche soziale Wohnungsbau die beste Lösung. „Da sollte man auch über neue Formen des Wohnens nachdenken“, sagte er. Er rief die engagierten Planerinnen und Planer dazu auf, radikal zu denken. Was das bedeuten könnte, skizzierten zwei seiner Studenten, die sich in einem Projekt mit dem Veringkanal befasst hatten: Ihre Einfälle reichten von einem gesäuberten Bade-Kanal über die Amüsiermeile „Las Vering“ bis hin zur „freien Republik Vering“, einem autonomen Mini-Staat am trockengelegten Kanalbett. Der Ansatz, die Kanalufer zum Freizeitgebiet auszubauen, fand auch Tom Lecke-Lopattas Zuspruch. Er brach eine Lanze für die jungen Menschen im Stadtteil, die sich das Areal gut mit Gewerbetreibenden oder Logistik teilen könnten: Tagsüber würde dann gearbeitet, nach Feierabend starte das Freizeitprogramm. Wohnen und Gewerbe seien dagegen nicht so gut vereinbar, sagte der Stadtplaner.
Provisorien weiterentwickeln, Nutzungen testen, Experimente wagen – von den Grenzen, auf die Kulturschaffende dabei stoßen, kann Mathias Lintl vom Soulkitchen-Kollektiv bereits ein Lied singen. Beim Pegelstand berichtete er davon, wie zermürbend der Kampf mit den städtischen Institutionen sei, die keine kulturellen Experimente am Kanalufer dulden wollten, auch wenn sie selbst keine konkreten Gegenvorschläge hätten. Moderator Hartmut Sauer fasste zusammen: „Es gibt keine leichten Lösungen.“ Dass der Austausch und die gemeinsame Arbeit an der Zukunft des Veringkanals weitergehen muss, stand jedoch für alle fest, die zum „Pegelstand“ gekommen waren. Die Stadtplaner ermutigten sie darin. „Meine große Hochachtung vor der Arbeit, die hier geleistet wird“, sagte Prof. Bernd Kniess. „Bleiben Sie am Ball!“
von Annabel Trautwein
[fb_button] [tweetbutton]
Schreibe einen Kommentar