Hasan Cinar ist ein gefragter Mann im Rathaus Wilhelmsburg. Woche für Woche berät er Menschen aus dem Stadtteil, unterstützt sie beim Umgang mit Behörden und Bürokratie, übersetzt Formulare und Briefe. Viele Wilhelmsburger ausländischer Herkunft vertrauen ihm und bauen auf seine Hilfe. Doch bald stehen sie vor verschlossener Tür: Der Bezirk Mitte will die Stelle „Sozialberatung für Migranten“ aus Kostengründen ersatzlos streichen. Viele Bedürftige in Wilhelmsburg fühlen sich im Stich gelassen. Auch in den übrigen sozialen Beratungsstellen besteht die Sorge, dass sich die Notlage vieler Menschen auf der Insel weiter verschärft. Nun wollen Betroffene um die Beratungsstelle kämpfen.
„Hasan soll bleiben!“ Mit brüchiger Stimme trägt eine alte Wilhelmsburgerin mit Kopftuch ihre Sorgen vor. Ihr Mann sei krank, auch sie selbst sei gebrechlich, sagt sie auf Türkisch. Wenn es für Menschen wie sie bald keine türkischsprachige Sozialberatung mehr in Wilhelmsburg gebe, müssten die beiden für jeden Behördenbrief in die Stadt fahren, um sich helfen zu lassen. Für alte und kranke Menschen sei das ein großes Problem, sagt die Frau.
Rund 50 Menschen, fast alle türkischer Herkunft, applaudieren ihr. Sie bilden die erste „Volksversammlung gegen Sozialabbau“, die sich im Bürgerhaus trifft, um den Protest gegen den Abbau der Beratungsstelle zu organisieren. Eingeladen haben dazu Ali Yüce von der Bürgerinitiative ausländischer Arbeitnehmer (BI) und Hasan Erkan von der interkulturellen Beratungsstelle Verikom. Sie reichen ein Mikrofon hin und her, viele Betroffene wollen heute den Mund auf machen. Es geht ihnen nicht nur um wohnortnahe Hilfe für Alte und Kranke: Das Geld für Bahntickets in die Stadt sind auch für viele Jüngere ein erheblicher Kostenfaktor. Schon der Wegzug des Fachamts für Grundsicherung habe die Not verschärft, kritisieren sie. Die Männer und Frauen im Bürgerhaus fühlen sich im Stich gelassen. Leidenschaftlich klagt ein früherer Unternehmer an: „Ich habe in meinem Berufsleben insgesamt 250.000 Euro Steuern gezahlt. Was ist jetzt die Gegenleistung?“
Bezirk: Abbau der Beratungsstelle ist „sozialpolitisch vertretbar“
Die Stadt muss die Stelle im Wilhelmsburger Rathaus erhalten – das ist die zentrale Forderung der Volksversammlung. Die Beratungsstelle gleich neben dem Jobcenter und dem sogenannten Kundenzentrum ist für viele ein ständiger Anlaufpunkt. Hasan Cinars Büro ist 18 Stunden in der Woche für spontane Besucher offen, darüber hinaus gibt es Termine nach Vereinbarung. Das Bezirksamt Mitte will das ändern. Die Stelle, die vom Jugendamt des Bezirks bezahlt wird, soll eingespart werden. Hasan Cinar soll andere Aufgaben bekommen. „Sozialpolitisch wird dies für vertretbar gehalten, weil es in der Region Wilhelmsburg für den Bereich Jugend und Familie ausreichend Beratungsmöglichkeiten gibt“, teilte das Bezirksamt auf Nachfrage von WilhelmsburgOnline.de mit. Dass die Menschen nicht nur mit Familienproblemen, sondern auch mit dringenden Fragen zu Arbeitslosigkeit, Rente, Wohnungsnot oder Behördenvorgängen zu Hasan Cinar kommen, nimmt das Bezirksamt zur Kenntnis. An seiner Entscheidung ändert das jedoch nichts. Für Hasan Erkan von Verikom führen die Argumente völlig am eigentlichen Problem vorbei. „Egal, welche Behörde zahlt: Die Politik soll dafür sorgen, dass diese Stelle den Wilhelmsburgern zugute kommt“, sagt er. Für ihn und viele andere ist der Sozialabbau auf der Elbinsel längst offensichtlich.
Es gebe genug andere Sozialberater in Wilhelmsburg, sagt das Bezirksamt und zählt auf: Den Jugendmigrationsdienst In Via an der Krieterstraße, die Migrations- und Integrationsberatung der BI Rudolfstraße, die Sozialberatung des Kirchenkreises Hamburg-Ost an der Kirchdorfer Straße, die Diakoniestation in der Rotenhäuser Straße, Verikom und die Beratungsstelle des Bezirks Mitte am Vogelhüttendeich, die bei familiären Problemen hilft. Dort solle künftig auch eine Stelle für psychologische Beratung besetzt werden, teilt das Bezirksamt mit. Die Ausschreibung sei jedoch bislang ohne Erfolg geblieben. Wöchentlich 14 Stunden soll die neue Fachkraft dort tätig sein.
Beratungsstellen auf der Insel können Bedarf nicht auffangen
Können die übrigen Helfer im Stadtteil den Bedarf auffangen, wenn Hasan Cinar seinen Platz räumen muss? Die Beratungsstellen, auf die sich das Bezirksamt beruft, sehen kaum eine Chance. „Sozialberatung“ ist selten das Rundumpaket für alle. In Via ist ausschließlich für junge Einwanderer gedacht, die gerade in Deutschland angekommen sind – für andere Bedürftige ist sie die falsche Adresse. Die Beratungsstelle des Bezirks kann wiederum zu Fragen jenseits von Jugend und Familie wenig sagen. Verikom ist restlos ausgelastet, sagt Hasan Erkan. Die Diakoniestation im Reiherstiegviertel ist vor allem für Rentner und Senioren mit Pflegebedarf zuständig. Die BI in der Rudolfstraße richtet sich an ausländische Arbeitnehmer, die mindestens drei Jahre in Deutschland leben. Berater Ali Yüce spricht aus persönlicher Erfahrung: „Keine Stelle kann den Bedarf im Stadtteil komplett decken – auch wir nicht.“
Christel Ewert leistet auch Hilfe bei Existenznotfällen. Sie ist für den Kirchenkreis Hamburg-Ost im Einsatz, ihre Stelle wird komplett aus der Kirchensteuer finanziert. Die Pläne des Bezirksamts sind für sie ebenso unverständlich wie die Begründung. „Es ist ganz egal, wer diese Stelle bezahlt“, sagt sie. „Es ist ein Segen für Wilhelmsburg, dass wir wenigstens diese städtische Beratungsstelle haben.“ Ihre Einrichtung sei nicht in der Lage, Hasan Cinars Leistung einfach zu übernehmen. „Wir hatten vorher schon genug zu tun", sagt sie. Vor allem aber ärgert Christel Ewert sich darüber, dass die Stadt immer wieder auf fremde Träger wie Kirchen oder Vereine zurückgreift, statt selbst ausreichende Hilfe für ihre Einwohner zu gewährleisten. Die Sozialberatung sei eine öffentliche Pflichtaufgabe, sagt Christel Ewert: "Die Stadt kann sich aus ihrer gesetzlich festgeschrieben Verantwortung nicht herausziehen."
von Annabel Trautwein
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Hinweis:
Wer den Protest gegen den Abbau der Stelle unterstützen möchte, kann sich auf einer Unterschriftenliste eintragen. Genauere Infos gibt es per Mail an ayuce@hotmail.de oder telefonisch unter 0176 48 33 97 00 (mobil) und 040 42 90 25 73 (Festnetz).
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