„So viele Briefe an einem Tag!“ Ein grauhaariger Mann knallt einen Stapel Umschläge auf den Tisch. Es sind acht Stück, alle kommen vom Jobcenter. „Das ist Wahnsinn!“, ruft er. Seine Wut ist für alle im Raum verständlich. Etwa 30 Frauen und Männer sind zur Veranstaltung „Wer hat Angst vorm Jobcenter?“ ins Bürgerhaus Wilhelmsburg gekommen. Alle haben ihre eigenen Erfahrungen mit dem Jobcenter gemacht – schlimme, weniger schlimme, manchmal auch gute. Stress, Frust und Wut aber teilen sie alle. Bei einem ersten Treffen suchten die Betroffenen gemeinsam nach einer Ursache: Wo läuft etwas schief im Jobcenter? Was muss besser werden?
„Geh zurück nach Russland!“ Das habe sie auf dem Jobcenter zu hören bekommen, erzählt eine aufgebrachte Frau auf dem Treffen. Der Sachbearbeiter habe sie angeschrien und gedroht, sie zum Psychologen zu schicken – dabei gehe es ihr nur darum, einen Job zu bekommen, der ihrem Fachhochschulabschluss auch angemessen sei. Auch ein Berater ist zu dem Treffen im Bürgerhaus gekommen. Mehr als die Hälfte der Leistungsbescheide des Jobcenters, die zur Prüfung auf seinem Tisch landeten, seien falsch berechnet, sagt er. Eine junge Frau berichtet, das Jobcenter habe ihr ohne klare Begründung 300 Euro pro Monat gekürzt. Dass dabei Kindergeld falsch angerechnet wurde, erfuhr sie erst, nachdem sie persönliche Gegenstände verpfändet und sich bei Freunden verschuldet hatte. Andere berichten, dass sie sogenannte Eingliederungsvereinbarungen unterschreiben sollten, noch bevor sie die Chance bekamen, das Dokument in Ruhe zu lesen oder übersetzen zu lassen.
Die Liste der Klagen ist lang: Papiere, die längst eingereicht wurden, verschwinden im Jobcenter. Das Arbeitslosengeld wird falsch berechnet. Beratung gibt es kaum und für die, die kein Deutsch können, gar nicht. Menschen sollen ihre Wohnung verlassen, weil die Miete wenige Euro höher ist als gestattet – auch wenn sie dann auf der Straße stehen. Bedürftige werden als Bittsteller behandelt, auch wenn sie nur ihr Existenzminimum sichern wollen. Läuft etwas schief, heißt es oft: Es ist Ihre Schuld. Sie haben die Regeln verletzt, vielleicht sogar mit Absicht. Sie müssen sich verantworten.
Bedürftige sehen sich unter Generalverdacht
„Ich komme gegen diese Leute gar nicht an“, klagt eine andere Frau auf dem Treffen. Ihr sei überhaupt nicht klar, wie das Jobcenter zu seinen Entscheidungen komme. In einer Woche habe sie drei verschiedene Sachbearbeiter gehabt. Beratung bekomme nur, wer gezielt danach frage – diese Erfahrung teilen viele im Raum. „Ich sitze nicht zu Hause und möchte bedient werden“, sagt eine andere Frau. Doch da ständig andere Sachbearbeiter für ihre Ansprüche zuständig seien, komme es immer wieder zu Fehlern. Die würden dann meistens ihr in die Schuhe geschoben – und auch noch als Absicht dargestellt. „Mich stört diese grundsätzliche Tonart: Du willst dir hier irgendwas ergaunern“, kritisiert die Frau.
Dass die Probleme mit dem Jobcenter keine Einzelfälle sind, zeigt auch eine Studie, die das Diakonische Werk Hamburg in Auftrag gegeben hat. „Respekt – Fehlanzeige? Erfahrungen von Leistungsberechtigten mit Jobcentern in Hamburg“ heißt der Bericht aus dem Jahr 2012. Die Forscherinnen und Forscher sprachen mit Menschen, die auf das Jobcenter angewiesen sind, über ihre Erfahrungen. Zusätzlich zu diesen Interviews befragten sie Experten und Expertinnen, die in ihrem Beruf mit dem Jobcenter zu tun haben. Das Ergebnis: Es läuft eine Menge schief in den Hamburger Jobcentern. Viele Bedürftige leiden unter langwierigen Verfahren, unzuverlässigen Sachbearbeitern, Fehlern bei der Berechnung ihrer Ansprüche oder einem demütigenden Umgangston. Wie die Jobcenter die Lage selbst einschätzen, soll in einer weiteren Studie geklärt werden.
Suche nach Lösungen
„Wo gibt es Chancen, anzusetzen, damit sich wirklich etwas ändern kann?“, fragt Christel Ewert in die Runde. Die Sozialberaterin vom Evangelisch-Lutherischen Kirchenkreis Hamburg-Ost moderiert das Treffen gemeinsam mit Christiane Tursi von der interkulturellen Beratungsstelle Verikom. Beiden sind die Klagen über das Jobcenter gut bekannt. Es seien keine Einzelfälle, sagen sie. Viele Probleme, die beim Treffen im Bürgerhaus angesprochen werden, sind demnach in der Arbeitsweise der Jobcenter begründet. „Die Jobcenter sind unterbesetzt. Das ist ein großes Problem“, sagt Christiane Tursi. Auch das Personal stehe unter Druck. „Die Mitarbeiter werden schlecht geschult, sie werden auf Einsparungen getrimmt, und wenn man sanktioniert, dann ist das gut – auf dieser Basis arbeiten die Jobcenter.“
Was muss besser werden? Auch darum geht es bei dem Treffen im Bürgerhaus. Verbesserungsvorschläge gibt es eine Menge – 15 Punkte tragen die Beraterinnen auf einer Forderungsliste zusammen. Sie zielen auf eine bessere Kommunikation, bessere Ausstattung der Jobcenter, kritisieren Maßnahmen oder erinnern an geltendes Recht. Bei einem weiteren Treffen wollen die Betroffenen ihre Ideen mit Verantwortlichen aus dem Jobcenter besprechen. „Wir müssen irgendwo anfangen“, sagt Christel Ewert.
Diese Forderungen stehen auf der Liste:
- unaufgeforderte, kompetente Beratung
- Hinweise, dass Begleitung zum Jobcenter möglich ist
- Beistand muss akzeptiert werden
- Jobcenter sollen sich als Dienstleister verstehen
- Berufliche Qualifikationen bei der Jobvermittlung berücksichtigen
- Beschwerde-Management durch eine unabhängige Stelle
- Mehrsprachigkeit muss sein
- Sozialberatungsstelle soll im Amt bleiben
- Mitsprache bei Eingliederungsvereinbarung
- Zeit zum Durchlesen und Übersetzen lassen
- schriftliche Empfangsbestätigung für abgegebene Unterlagen
- bessere telefonische Erreichbarkeit
- realistische Forderungen bei Umzugsaufforderung
- Spielräume bei der Miete gewähren
- Willkür bei Bewerbungsauflagen stoppen
von Annabel Trautwein
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