Wilhelmsburg wimmelt von Geschichten! In der Moschee, in der Bücherhalle, auf dem Bunker, in der Buchhandlung oder in der Honigfabrik – an all diesen Orten ließen sich Kinder am Donnerstag aus Büchern vorlesen. In der Emmauskirche an der Mannesallee waren zwei prominente Vorleser zu Gast: Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie und der Fernseh-Moderator Ingo Zamperoni lasen aus dem Buch „Verflixt – ein Nix!“ vor. Sie machten es richtig spannend.
Was ist das eigentlich – ein Nix? Etwa gar nichts? Doch, da ist etwas. Das merken alle, die Kirsten Boies Geschichte in der Emmauskirche lauschen. Etwas hat sich bei Jonathan zu Hause ins Badezimmer eingeschlichen. Mitten in der Nacht. Jonathan fürchtet sich, das können die Kinder genau hören. Kirsten Boie macht ihre Stimme ganz weich, so wie die Schritte von Jonathan, als er durch das dunkle Haus schleicht. Die Vorleserin ist auf der Hut, denn auch der Held ihrer Geschichte muss aufpassen. Jonathan singt, um sich Mut zu machen. „Da hört er die Stimme“, sagt Kirsten Boie.
„Mach fix, mach fix!“, keift Ingo Zamperoni ins Mikrofon. Es ist der Nix, den er nachmacht. Der kleine Meerjungmann ist richtig sauer, das können alle hören. Hektisch kommandiert er Jonathan herum. Er will raus aus dem Eimer mit Muscheln, die der Junge vom Strand mitgebracht hat. Jonathan traut seinen Augen nicht. Er grübelt, und auch Ingo Zamperoni runzelt die Stirn beim Vorlesen. Ein Nix, ein Meerjungmann – das muss ein Traum sein. So etwas gibt es doch gar nicht, oder?
Meerjungmänner sind nix für die Nachrichten
Genau das ist das Tolle beim Schreiben, sagt Kirsten Boie. „In Geschichten kann man ja lauter Sachen erfinden, die es in Wirklichkeit nicht gibt.“ Die Schriftstellerin weiß genau, wovor sich Jonathan nachts im dunklen Haus fürchtet. Sie kennt jeden finsteren Winkel darin, denn sie hat sich alles selbst ausgedacht. Ihre Stimme verwandelt die Worte aus dem Buch so, dass die Kinder selbst erleben können, wie Jonathan die Furcht packt. Kirsten Boie ist ein Profi im Geschichtenerzählen.
Auch Ingo Zamperoni kennt sich mit Wörtern und Sprache bestens aus. Als Nachrichten-Moderator im Fernsehen erzählt er, was in der Welt vor sich geht. Meerjungmänner kommen darin nicht vor. „Ich habe zumindest in den Nachrichten noch nie von einem Nix berichtet“, sagt Ingo Zamperoni. „Schade eigentlich.“ Für seine Arbeit ist die Wirklichkeit entscheidend – anders als bei Kirsten Boie. „Ich darf mir nichts ausdenken“, sagt der Fernseh-Moderator. Die Zuschauer, die ihn im Fernsehen bei den Tagesthemen oder im Nachtmagazin sehen, müssen sich auf seine Berichte verlassen können.
Auch im Fernsehen liest Ingo Zamperoni oft etwas vor – nur merken das die Zuschauer nicht. „Ich lese die Nachrichten vom Teleprompter ab“, erklärt er. „Das ist ein Gerät, das den Text, den ich in den Computer geschrieben habe, direkt vor die Linse der Kamera spiegelt.“ So kann Ingo Zamperoni in die Kamera schauen und gleichzeitig seinen Text ablesen, ohne dass die Menschen vor dem Fernseher etwas davon mitbekommen.
Autogramme für alle
Wenn er seinen Kindern zu Hause etwas vorliest, braucht Ingo Zamperoni solche Geräte natürlich nicht. Dann reicht ein Buch mit spannenden Geschichten, zum Beispiel eins von Kirsten Boie. Ihre Geschichten vom Ritter Trenk zum Beispiel mögen sie gerne, sagt er. Ingo Zamperoni hat drei Kinder: Zwillinge, die beide fünf sind, und eine zweijährige Tochter. Manchmal liest er ihnen auch Bücher in anderen Sprachen vor. Weil Ingo Zamperonis halbe Familie aus Italien stammt und er mit einer Amerikanerin verheiratet ist, spricht die Familie zu Hause auch Italienisch und Englisch. Die Kinder können also mehrere Sprachen – wie auch viele Kinder in Wilhelmsburg.
Mit der Geschichte vom Nix kommen Ingo Zamperoni und Kirsten Boie in der Emmauskirche gut an. Die Kinder wollen alles mögliche von den beiden Vorlesern wissen – zum Beispiel, wie viele Bücher Kirsten Boie schon geschrieben hat. Die Autorin weiß es selbst nicht so genau, sagt aber, dass es wohl mehr als 100 Stück sind. Die Kinder staunen und klatschen Beifall. Alle wollen ein Autogramm. Kirsten Boie und Ingo Zamperoni unterschreiben auf Zetteln oder auf dem Leserallye-Pass, mit dem die Kinder von Ort zu Ort laufen, um sich vorlesen zu lassen. „Das verliere ich nie!“, sagt ein Junge und hält einen Zettel mit dem Autogramm von Kirsten Boie hoch. Vor dem Vorlese-Tisch von Ingo Zamperoni krempeln viele Kinder die Ärmel hoch, damit der Fernsehmoderator direkt auf ihrem Arm unterschreibt.
Auch die beiden Vorleser nehmen Andenken mit nach Hause. Die Kinder schenken ihnen Blumen, Bilder mit selbstgemachten Rahmen, die wie ein Fernseher aussehen, und Halsbonbons – damit sie auch in Zukunft mit kräftiger Stimme vorlesen können.
von Annabel Trautwein
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