Feiern gegen das Vergessen

Tradition und Träumerei, Gaudi und Gedenken – darum geht an diesem Wochenende im Bürgerhaus Wilhelmsburg. Die Familie Weiss präsentiert gemeinsam mit dem Bürgerhaus Musik, Kultur und Geschichte der Sinti auf der Elbinsel. Auf der Bühne wechseln sich bis Samstagabend Virtuosen verschiedener Spielarten der Sinti-Musik ab, dazu stehen szenisch vorgetragene Familiengeschichten an und eine Kunstausstellung über die Verbrechen gegen Sinti und Roma in der Nazizeit. Den Auftakt gab am Freitagabend das Café Royal Salonorchester mit einem rauschenden Konzert – das Elbinsel Gipsy Festival hat begonnen.

Ein Intro von schwelgerischer Melancholie dringt durch die Publikumsreihen. Die Gäste im Bürgerhaus haben sich schick gemacht. Sie sind zahlreich gekommen, der Saal ist fast voll. Wie ein Seufzen weht die Musik des Café Royal Salonorchesters durch den Raum, bis die letzten Alltagsgedanken verblasst sind. Da klingen auf einmal neue Töne auf – fröhlicher Swing, wie eine lustige Erzählung, bei der sich Saxophon und Geige immer wieder ins Wort fallen. Mühelos spielen sich Kako Weiss und Bummel Weiss die Melodie zu. Die Klänge tanzen, aufgewirbelt und umarmt von Gitarre, Akkordeon und Kontrabass, zwischen dem jungen und dem alten Sinto hin und her. Die Musik schwillt an und verklingt wie die Atemzüge eines einzigen Körpers.

Sinti-Swing in perfekter Präzision – das ist Tradition zum Auftakt des Elbinsel Gipsy Festivals und eine Spezialität aus dem Hause Weiss. Drei Männer der Familie bilden gemeinsam mit Gitarrist Clemens Rating und Bassist Gerd Bauder das Café Royal Salonorchester: Violinist Bummel, Saxophonist Kako und Baro Kako am Akkordeon. Auch nach der letzten Zugabe des Salonorchesters bleibt die Familie auf der Bühne des Bürgerhauses präsent: Martin Weiss und das Brady Winterstein Trio aus Frankreich übernehmen mit Sinti-Swing und Jazz im Manouche-Stil à la Django Reinhardt.

Romantisch und ausgelassen, aber auch nachdenklich soll es am Samstag im Bürgerhaus weitergehen. Der Tag steht im Zeichen des Gedenkens an die dunklen Kapitel der Geschichte von Sinti und Roma in Deutschland, die für viele in Wilhelmsburg auch Familiengeschichten sind. Der Künstler Boris Weinrich ruft die Erinnerung an Verfolgung und Ausgrenzung in der Zeit des Nazi-Regimes mit Bildern in Erinnerung. Die Ausstellung wird um 16 Uhr eröffnet und soll voraussichtlich bis zum 17. März im Bürgerhaus zu sehen sein. Von persönlichen Erfahrungen aus dieser Zeit erzählt ab 17 Uhr das Bühnenstück „Racke malprahl – sprich darüber“. Für das Projekt forschten drei junge Männer der Familie Weiss nach, wie ihre Großeltern die Verbrechen der Deportation und Gefangenschaft im Konzentrationslager erlebten, und rufen nun die Erinnerungen der letzten Zeitzeugen den Jüngeren ins Gedächtnis. Die Texte gegen das Vergessen werden vorgetragen von Moritz Terfloth. In dem anschließenden Gespräch zwischen Arnold und Harry Weiss, Patrick Geissler und Ralf Lorenzen wollen die drei Männer veranschaulichen, wie die Geschichte auch ihr Leben heute noch prägt.

Seit mehr als 100 Jahren leben Sinti in Wilhelmsburg, sagte Bezirksamtschef Andy Grote, der das Elbinsel Gipsy Festival mit einem Grußwort im Namen des Hamburger Senats eröffnete. Trotz dieser langen gemeinsamen Geschichte habe es heute kaum eine Volksgruppe schwerer, sich gegen Diskriminierung zu wehren und den Respekt zu erhalten, der ihr gebühre. Das Zusammenleben als interkulturelle Gemeinschaft funktioniere an vielen Stellen noch nicht gut genug, erklärte der Bezirksamtsleiter. Der Zuzug von Menschen aus anderen Ländern und Kulturen stelle die Gesellschaft immer wieder vor Herausforderungen. „Es fällt aber auch schwer, der einheimischen Bevölkerung den Unterschied zu vermitteln zwischen den Einwanderern, die in den vergangenen Jahren aus Osteuropa zu uns gekommen sind – da haben wir wirklich eine große Integrationsleistung vor uns – und den Sinti und Roma, die seit mehr als 100 Jahren hier leben und die wir nicht integrieren, sondern respektieren müssen“, sagte der Bezirksamtsleiter unter Beifall des Publikums.

„Wir machen hier Musik und die soll ihnen auch gefallen.“ So einfach brachte der Familienälteste Emil Weiss es auf den Punkt, als er zu einer kurzen Ansprache auf die Bühne kam. Denn beim Elbinsel Gipsy Festival soll neben dem schweren Erbe der Vergangenheit auch die Freude an der Kultur der Sinti nicht in Vergessenheit geraten. Mit Django Deluxe soll das Fest am Samstagabend um 20 Uhr weitergehen. Giovanni, Jeffrey, Robert und Kussi Weiss versprechen rasanten und einfühlsamen Sinti Jazz. Ihr Ruf eilt ihnen voraus – im vergangenen Jahr wurde die Band mit dem Jazz Echo ausgezeichnet. Das Finale überlassen die Musiker einer jungen Hoffnungsträgerin aus ihrem Kreis: Melody Weiss tritt mit ihrem Ensemble auf, begleitet von ihrem Cousin Kako. Schon vor zwei Jahren machte die stimmgewaltige Sängerin im Bürgerhaus Eindruck. „Sie werden hören, ihre Stimme ist noch kräftiger geworden“, verspricht Mitorganisatorin Judy Engelhardt.

von Annabel Trautwein

 

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Was sind Sinti? Was sind Roma?

Seit mehr als 600 Jahren sind Sinti und Roma in Europa heimisch. Die beiden Volksgruppen stellen aber keine Nationen mit eigenem Land dar, sondern sind auch in ihren Herkunftsländern anerkannte Minderheiten. Verbindend ist die Sprache Romanes, die je nach Herkunftsland unterschiedlich gesprochen wird. Als Sinti bezeichnen sich die Gruppen der Minderheit, die in West- und Mitteleuropa beheimatet sind, Roma nennen sich die Gruppen, die aus Ost- und Südosteuropa stammen. Der Begriff „Zigeuner“, der früher für Sinti und Roma üblich war, wird heute weitgehend als abwertend und ausgrenzend aufgefasst und ist deshalb nicht mehr als neutraler Begriff üblich.


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