Ein besseres Jobcenter ist möglich: Tipps aus Berlin

Rechenfehler bei Hartz IV-Leistungen, zu wenig Beratung und Stress mit den Sachbearbeitern – zwischen Jobcenter und Bedürftigen in Wilhelmsburg läuft offenbar einiges schief. Es gibt viel zu klären, doch Einladungen zu einem öffentlichen Gespräch lehnte die Leiterin des Jobcenters in Wilhelmsburg bisher ab. Der Grund: Sie dürfe keine Einzelfälle publik machen. Doch handelt es sich bei den Klagen wirklich um Einzelfälle? Im Berliner Stadtteil Wedding haben „Kunden“ des Jobcenters ganz ähnliche Erfahrungen gemacht – und gemeinsam mit dem Personal Lösungen erarbeitet. Wie das geklappt hat, erläuterte der Berliner Rolf Frommholz im Kreis von interessierten Wilhelmsburgern im Bürgerhaus. Nun sucht die Runde nach weiteren Mitstreitern für eine Aktionsgruppe.

Ein Gespräch auf Augenhöhe mit dem Chef des Jobcenters – für viele Leistungsempfänger in Wilhelmsburg ist das kaum vorstellbar. „Es wird nur Druck gemacht. Ich bin noch nie über meine Rechte informiert worden. Und wer seine Rechte zufällig kennt, wird schikaniert“, klagte eine Betroffene am Donnerstag im Bürgerhaus. In der rund 20-köpfigen Runde bestätigte sie damit ein bekanntes Bild. Schon bei einem ersten Treffen unter dem Motto „Wer hat Angst vorm Jobcenter“ im Oktober 2013 waren etliche Klagen über das Jobcenter laut geworden: Verschwundene Papiere, ständig wechselnde Sachbearbeiter, Zeitdruck, Sprachprobleme und offenes Misstrauen machten den sogenannten Kunden des Jobcenters zu schaffen. Gleichzeitig wurde klar: Auch die Mitarbeiter im Jobcenter stehen unter Druck. Es könnte für beide Seiten besser laufen.

So dachten auch die Betroffenen in Berlin-Wedding, wie Rolf Frommholz berichtete. Die Beraterinnen Christiane Tursi, Hatice Çalışkan und Christel Ewert hatten ihn eingeladen, seine Erfahrungen mit der Gruppe in Wilhelmsburg zu teilen und Tipps zu geben. Schließlich konnte das Berliner Aktionsteam, das 2008 für die Interessen der Leistungsberechtigten an den Start ging, schon einiges bewirken: Das zentrale Jobcenter, vor dem die Menschen früher 500 Meter die Straße entlang Schlange standen, wurde auf vier Niederlassungen aufgeteilt – nun sei die Stimmung für alle deutlich entspannter, erzählte Rolf Frommholz. Anders als vorher könnten die „Kunden“ nun auch an der Hotline des Jobcenters Termine vereinbaren. Auch habe das Aktionsteam erreicht, dass die Mitarbeiter im Jobcenter interkulturell geschult werden sollen, um Menschen aus anderen Ländern sensibler begegnen zu können. „Wir sind mit denen wirklich auf Augenhöhe“, sagte Rolf Frommholz im Bürgerhaus.

Ohne Vorarbeit läuft es nicht

Wie haben die Berliner das geschafft? Leicht war es nicht, erzählte der Berliner. Das Aktionsteam habe viel lernen müssen: Wie ist das Jobcenter aufgebaut? Wer erteilt die Anweisungen? Wie können sich Hartz-IV-Empfänger gegenüber dem Jobcenter-Chef Respekt verschaffen? Wie verhandelt man mit ranghohen Politikern? All das habe die Gruppe im Lauf der Jahre erst erarbeitet. Auch musste sie herausfinden, was genau den Bedürftigen im Wedding fehlt und was sie sich wünschen – also machte sie eine großflächige Umfrage auf Deutsch, Türkisch und Arabisch. Als die Initiative für ein besseres Jobcenter startete, hatten die Aktiven laut Rolf Frommholz bereits ein Jahr Vorarbeit hinter sich.

Für die Aktiven in Wilhelmsburg brachte er drei Tipps mit: Möglichst viele Mitstreiter finden. Kompromisse finden statt Konfrontation suchen. Und bei den entscheidenden Leuten Druck machen. Mitstreiter fanden die Betroffenen im Wedding zum Beispiel in Moscheegemeinden, in Kirchen oder Hilfsorganisationen. Lange vor der Initiative besuchten sie sich gegenseitig, um sich besser kennenzulernen. Mit Erfolg, wie Rolf Frommholz berichtete: Bei ihrer Gründungsveranstaltung zählte die Aktionsgruppe 1.200 Leute. Das konnten Jobcenter und Bezirkspolitiker nicht übersehen.

Gute Ergebnisse schaffte die Gruppe dann letztendlich weniger mit Druck als mit Diplomatie. Unmut gab es schließlich nicht nur bei denen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, sondern auch unter den Sachbearbeitern im Jobcenter, die diese Leistungen verwalten sollten. Auch sie litten unter Problemen wie Personalmangel oder Stress im Empfangsbereich, erläuterte Rolf Frommholz. Beide Seiten hatten also ein Interesse daran, gute Lösungen zu finden – auch wenn die Aktionsgruppe das Jobcenter oft erst überzeugen musste. Zum Beispiel sei der Geschäftsführer anfangs strikt dagegen gewesen, dass sich unzufriedene „Kunden“ auf geregeltem Weg beschweren können. Inzwischen aber gibt es im Jobcenter Beschwerdekarten, die, wie Rolf Frommholz versicherte, auch dort gelesen und ausgewertet werden. „Das ist ein erster Ansatz“, sagte er.

Vorteil in Berlin: Jobcenter sind vom Bezirk abhängig

Einen Vorteil hatten die Aktiven im Wedding gegenüber den Wilhelmsburgern: In Berlin haben die Bezirkspolitiker im Jobcenter ein Wörtchen mitzureden. Die Aktionsgruppe hatte also auch ein Druckmittel in der Hand, denn der Unmut von Tausenden Betroffenen und ihren Anhängern könnte bei der nächsten Wahl ernsthaft Stimmen kosten. Also schlug die Aktionsgruppe auch im Bezirksrathaus auf und bestand auf Gesprächen, auch wenn die zuständigen Politiker dafür eine laufende Sitzung unterbrechen mussten. Dieses Druckmittel zieht jedoch in Hamburg nicht, wie ein Sozialarbeiter in der Runde im Bürgerhaus berichtete. Denn in der Freien und Hansestadt ist das Jobcenter weder Bezirk noch Bürgerschaft Rechenschaft schuldig – auch wenn es von öffentlichem Geld finanziert wird. Nur bei den Jugendberufsagenturen gibt es eine Zusammenarbeit zwischen Jobcenter und Sozialbehörde.

Die Aktiven in Wilhelmsburg haben noch einen langen Weg vor sich. Aufbrechen wollen sie trotzdem. „Das Beispiel macht Mut“, sagte Christiane Tursi. „Wir dürfen da ruhig in die Zukunft denken.“ Als erstes soll die Gruppe wachsen. Nicht nur direkt Betroffene sollen sich engagieren, sondern alle, die für ein besseres Miteinander von Bedürftigen und Jobcenter stark machen wollen. Aus dem Kreis könnte dann eine kleinere Gruppe Gespräche mit dem Jobcenter vorbereiten, um gemeinsam über Lösungen nachzudenken – wenn nötig auch hinter verschlossener Tür.

von Annabel Trautwein

 

Mithelfen:

Wer die Gruppe in Wilhelmsburg unterstützen möchte, kann sich telefonisch melden. Bei der interkulturellen Beratungsstelle Verikom hoffen die Mitstreiterinnen auf Anrufe unter der Nummer 040 754 18 40. Die Aktiven beim Evangelisch-Lutherischen Kirchenkreis Hamburg-Ost sind unter der Nummer 040 28 57 41 18 erreichbar.

 

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