Nacht für Nacht wirft das Goldene Kalb seinen Abglanz auf die Brücken und Dalben zwischen Elbinsel und Stadt. Die Touristen in den Hafenbarkassen kennen es, die Wilhelmsburger sowieso. Elisabeth Richnow, die Künstlerin, findet es inzwischen eher langweilig. Viel lieber macht sie Kunst, die neue Gedanken freisetzt und den Spieltrieb kitzelt. In Wilhelmsburg findet sie alles, was sie dazu braucht: Die Weite der Industriebrachen zur Inspiration, Gedächtnisorte des Wilhelmsburger Alltags zum Andocken und Weiterspinnen und ein kritisches, waches Publikum zum Austausch frischer Ideen.
Wilhelmsburg war die Milchkammer Hamburgs, daher das Kalb – so lautet meist die Interpretation der Barkassenkapitäne, die den Touristen das Kunstwerk an der Argentinienbrücke erläutern. Dabei wollte Elisabeth Richnow gar nicht so weit über das biblische Motiv hinaus. Das Kalb soll ein Symbol sein für den modernen Götzen Hafenwirtschaft. „Der Hafen ist ein wirtschaftlicher Mythos in Hamburg“, sagt die Künstlerin. Obwohl er nur 20 Prozent der Wirtschaftsleistung der Stadt ausmache, werde er bis heute verherrlicht. Dafür soll das Kalb stehen. Doch besonders spannend findet Elisabeth Richnow ihren Einfall heute nicht mehr. „Mir fehlt die Mehrschichtigkeit“, sagt sie. „Ich glaube, das bringt die Leute nicht auf viele neue Ideen.“ Seit 2008 steht das Kunstwerk – mit Unterbrechung – auf seinem Sockel. „Ich habe es da hingestellt, als in Wilhelmsburg die Goldgräberstimmung losging“, sagt die Künstlerin.
Dass die Elbinsel zum Objekt kommerzieller Begierden werden könnte, habe sie anfangs kaum für möglich gehalten. Elisabeth Richnow hat Erfahrung mit der Gentrifizierung von Stadtteilen: Bevor sie nach Wilhelmsburg kam, erlebte sie die Effekte der sogenannten Aufwertung in Ottensen, auf St. Pauli und in der Schanze. Dass sich all das auf der Elbinsel wiederholen könnte, glaubte sie nicht. Zu viel Industrie, zu viel Hafen und Lkw-Verkehr. „Wilhelmsburg hatte einen total schlechten Ruf“, sagt sie. Als sie Kollegen für das Projekt „Lädenleuchten“ gewinnen wollte, das Anfang der 2000er auf den Leerstand im Reiherstiegviertel aufmerksam machte, trauten sich manche kaum auf die Insel.
Steigende Mieten statt leuchtender Läden
Heute fühlt sie sich als Künstlerin bisweilen wüsten Anschuldigungen ausgesetzt. „Du bist verantwortlich, dass hier die Mieten steigen“, brüllte sie neulich einer an. Auch sie habe sich damals dafür eingesetzt, dass sich was tut in Wilhelmsburg, sagt Elisabeth Richnow. Als der Verein Zukunft Elbinsel 2002 mit dem Spreehafenfest gegen den damaligen Zollzaun demonstrierte, war sie mit der Installation „Grenzgänger“ dabei: Drei lebensgroße Figuren aus Pappmaché, die durch das Stahlgitter hindurch liefen. Für den Wandel auf der Insel machten sich damals viele stark, erzählt die Künstlerin. „Ich glaube, keiner hat sich vorgestellt, was dabei herauskommt.“ Plötzlich stiegen die Mieten, neue Leute mit neuen Ansichten und Lebensstilen kamen auf die Insel und brachten die gefühlte Eintracht der Alteingesessenen durcheinander. Auch gab es kaum noch leerstehende Läden im Reiherstiegviertel – und für die, die sie noch zum Leuchten bringen konnten, sollten die Künstler plötzlich Miete zahlen.
„Manche Dinge bleiben auch gleich“, sagt Elisabeth Richnow und blickt auf den Stübenplatz. Der Markt habe sich – abgesehen von einem neuen Bio-Stand – kaum verändert. Auch ließen viele Eltern ihre Kinder noch allein auf der Straße spielen. In der Schanze oder in Ottensen gebe es das heute kaum noch. Die Brachen, Kräne und Container sind auch noch da – für Elisabeth Richnow ein großes Glück. „Ich mag Industriekultur unheimlich gerne“, sagt sie. Sie sei damit groß geworden, ihre Eltern lebten im Kontorhaus einer alten Kreidefabrik. Heute sind die Brachen und Brücken für sie eine Quelle der Inspiration. „Es schwingt immer so viel Geschichte mit – und gleichzeitig gibt es ganz viel Freiraum“, sagt die Künstlerin.
Es kribbelt auf der alten Kinofassade
Auch in ihrem aktuellen Projekt spielt Elisabeth Richnow mit Erinnerung und Neuanfang: Unter dem Titel „Rialto, Rialto“ gestaltet sie abwechselnd mit anderen Künstlern die Fassade des früheren Kinos am Vogelhüttendeich. Der heutige Besitzer Stefan Reifenrath, der das Lichtspielhaus im vergangenen Jahr für 180 Tage wieder zum Leben erweckte, stellte ihr die Fläche zur Verfügung. Das Kunstprojekt aber sei eigenständig, betont Elisabeth Richnow – auch wenn die Fassade immer Erinnerungen an das wachrufen, was dahinter liegt. „Es kribbelt so“, sagt sie. Mit diesem Kribbeln arbeiten sie und andere Künstler nun weiter: Die Wandbild-Ausstellung „Film ab“ von Jutta Konjer und Manfred Kroboth soll bis zum 15. Juni zu sehen sein, danach sind neben Wandbildern auch Klang- und Lichtinstallationen geplant.
Seit den „Grenzgängern“ am Zollzaun ist der öffentliche Raum Elisabeth Richnows liebste Wirkungsstätte. „Ich habe das Gefühl, Orte reden mit mir“, sagt die Künstlerin. Ihre Kunstwerke sollen dazu beitragen, dass Menschen ihre Umwelt mit anderen Augen entdecken und auf neue Ideen kommen. Ein Projekt findet Elisabeth Richnow in dieser Hinsicht besonders geglückt: das Zelt auf dem Brückenpfeiler, wo heute das Goldene Kalb steht. „no man is an island“ hieß die Installation. „Da hat unheimlich viel drin geschwungen: Einsamkeit, Unerreichbarkeit, Obdachlosigkeit“, sagt die Künstlerin. Kaum dass sie das Zelt aufgestellt und wieder vom Brückenpfeiler heruntergeklettert war, ging die Kunde über den Stübenplatz: „Auf dem Brückenpfeiler lebt jetzt jemand!“ Die Neuerfindung des Ortes, der Gedankenwechsel – es klappte. Viel schöner als das Goldene Kalb, findet Elisabeth Richnow.
von Annabel Trautwein
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