Ideen im Fluss: Autoren sammeln Inspiration

Heimkehr ins fremd gewordene Wilhelmsburg, Streit und Versöhnung am Kleingartenzaun, der unheimliche Nachbar – die Autorinnen und Autoren des Projekts „Wörter an die Macht!“ zeigen die Elbinsel von ihrer persönlichen Seite. In Köpfen und Kladden lassen sie Kurzgeschichten reifen, die bei aller Fantasie doch ein Stückchen Wilhelmsburger Wirklichkeit widerspiegeln. Bei einem Schreibkurs im Hausboot „Fried“ am Spreehafen wagten sich viele zum ersten Mal an die literarische Arbeit heran. Doch das Schwierigste kommt erst noch, weiß Kursleiter Jörg Ehrnsberger. Um erste Ideen auszuarbeiten und neue Blickwinkel auf die Elbinsel zu gewinnen, startete ein kleiner Kreis von Schreibern zur Barkassenfahrt rund um Wilhelmsburg.

Ein gutes Dutzend Entwürfe liegt schon bereit. Manche Kurzgeschichten werden inspiriert sein von einem einzigen Moment, andere sind lang gehegte Hintergedanken, die nun endlich zu Papier gebracht werden sollen. Doch ganz frei heraus klappt es mit dem Schreiben fast nie, sagt der Schriftsteller Jörg Ehrnsberger. „Es geht darum, die Regeln zu kennen, um sie dann gekonnt zu brechen“, erklärt er. Eine gute Kurzgeschichte braucht ein gutes Gerüst, Atmosphäre, Spannung. Sie soll Erwartungen bedienen, aber auch überraschen, sagt der Profi: „Das gelungene steckt zwischen den Zeilen.“ Einige Grundregeln fürs Gelingen haben sein Kollege Thorsten Stegemann und er den Kurzgeschichten-Schreibern schon in einem Workshop nahe gebracht. „Jetzt beginnt die eigentliche Arbeit“, sagt Jörg Ehrnsberger.

Für Yvonne Bedarf bedeutet das, eine gute Idee so zu entwickeln, dass sie bis zum letzten Satz trägt. Schauplatz und Figuren hat die 29-jährige Biologin schon gefunden: Ihre Geschichte handelt von einer jungen Frau, die mit ihrer Familie nach Kirchdorf-Süd zieht, aber vor lauter Angst nicht heimisch werden kann – immer wieder scheint ihr Alltag zwischen den Hochhäusern die Vorurteile vom sozialen Brennpunkt zu bestätigen. Und dann ist da auch noch dieser zwielichtige Nachbar… „Das Ende habe ich schon im Kopf, aber ich habe es noch nicht geschrieben“, sagt Yvonne Bedarf. Zunächst soll es ein Geheimnis bleiben. Der Rahmen der Geschichte jedoch komme bestimmt vielen aus Kirchdorf-Süd bekannt vor, sagt die Autorin. Sie lebt selbst seit ihrer Geburt in der Siedlung und ist mit den Klischees und Vorurteilen aufgewachsen. „Wenn man irgendwo erzählt, man wohnt in Kirchdorf-Süd, kommt gleich die Antwort: Oh Gott, wie überlebst du das?“, sagt sie. Mit ihrer Kurzgeschichte will sie einen Gegenimpuls setzen. „Eine ideale Gelegenheit“, findet Yvonne Bedarf.

Auch Harald Uebler schöpft beim Schreiben aus seinem persönlichen Erfahrungsschatz: Er erzählt die Geschichte seiner verstorbenen Frau. In Kriegszeiten wuchs sie in Neuhof auf – einem Stadtteil, der aus Wilhelmsburger Sicht fast vergessen ist, sagt der 75-Jährige. „Mein Anliegen ist, den heutigen Lesern nahe zu bringen, dass auf Neuhof auch Menschen gelebt haben“, sagt er. Das Schreiben sei für ihn auch zur Reise in die eigene Geschichte geworden. „Das ist für mich eine völlig neue Erfahrung.“ Als die Barkasse unter der Köhlbrandbrücke hindurch fährt, vorbei am Neuhöfer Kanal, holt Harald Uebler sein Notizbuch hervor und notiert einige Gedanken. Den Einstieg seiner Geschichte will er noch mal überarbeiten, sagt er. Auf jeden Fall soll das Erstlingswerk nicht das einzige bleiben. „Und wenn ich nur für mich schreibe“, meint Harald Uebler.

Christoph Rommel hat schon einige Texte zu Papier gebracht: Beiträge für das Abendblatt zum Beispiel oder ab und zu ein Gedicht. „Das macht ja jeder einmal“, meint der Musiker und Hochschul-Dozent. Das meiste aber sei in der Schublade gelandet. Für die Kurzgeschichte, die wie alle Geschichten von „Wörter an die Macht!“ in einem Buch erscheinen soll, hat er schon mehrere Entwürfe gemacht. Der Plot hat das Zeug zum Elbinsel-Thriller: Es geht um Korruption, Gentrifizierung und Betrug in den Hinterzimmern der Behörden. Die Soulkitchen-Halle steht im Zentrum des Konflikts, der sich an einem einzigen Tag dramatisch zuspitzt. Dass die Hauptfigur einer realen, stadtteilbekannten Person ähnelt, ist kein Zufall – aber absolut wohlwollend gemeint, versichert Christoph Rommel. Wie er einer Figur Gestalt und Charakter verleiht, lernte er bei einer Übung im Workshop: Die Autoren suchten sich auf dem Wochenmarkt eine reale Person, der sie folgten und mit viel Fantasie ein fiktives Leben andichteten. Ich weiß gar nicht, wieso ich da nicht früher drauf gekommen bin“, sagt der 68-Jährige. Der Ideenaustausch mit den anderen Schreibern habe ihm viel Mut gemacht. „In der Gruppe zu schreiben ist etwas ganz anderes, als sich alleine am Schreibtisch abzumühen“, sagt Christoph Rommel. Großes Lob hat er für die Dozenten übrig: „Die haben Theorie und Praxis, Leitung und Selbstständigkeit so genial verknüpft, dass es richtig angetörnt hat.“

Der Wandel Wilhelmsburgs beschäftigt auch Elke Kruse. Nach sieben Jahren in Paraguay kehrte die Rentnerin im Mai 2013 auf ihre Heimatinsel zurück – und erkannte sie fast nicht wieder. Einige Straßen hatten neue Namen, es gab neue Schulen in der Nachbarschaft und viel mehr junge Familien, wenige Meter vor ihrer Haustür erstreckte sich plötzlich der riesige, hochdekorierte Inselpark. „Es war mir alles sehr fremd“, erzählt Elke Kruse. Mit dem futuristischen Bau der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt hat sie sich bis heute nicht angefreundet. Nun verarbeitet sie das Wiedersehen mit ihrer alten neuen Elbinsel in einer Kurzgeschichte.

Die frühere Schulleiterin Mary Preuß gestaltet ihr Thema – Begegnungen mit der neuen Wilhelmsburger Wirklichkeit – aus freier Fantasie. Ihre Kurzgeschichte spielt im Kleingartengebiet, wo Rudi, ein alteingesessener Insulaner, mit den Veränderungen jenseits der Gartenpforte hadert. Besonders sein Parzellennachbar Ali ist ihm ein Dorn im Auge. Doch dann geschieht etwas, das Rudi alle Grenzen und Vorbehalte vergessen lässt. Inspiration zu der Geschichte fand Mary Preuß bei ihrer Arbeit auf der internationalen Gartenschau. Insgeheim stellte sie sich die Menschen vor, die ihre Gärten mit Gartenzwergen ausstatteten, Buddha-Statuen aufstellten oder auf ihrer Parzelle wilde Natur wuchern ließen. „Für mich ist das schon eine Gesellschaft in der Gesellschaft, diese Kleingärtner“, findet die 66-Jährige. Mit realen Personen aber habe ihre Geschichte nichts zu tun. „Ich habe mir das alles ausgedacht“, sagt Mary Preuß. Das fiktionale Schreiben ist Neuland für sie, packte sie aber schon im ersten Anlauf. „Ich bin mit Rudi im Kopf ins Bett gegangen und am nächsten Morgen unter der Dusche habe ich gedanklich das nächste Kapitel geschrieben“, erzählt sie.

Bei der Barkassenfahrt sind sich alle einig: Das Schreiben in der Gruppe beflügelt die Fantasie und hilft, die handwerklichen Kunstgriffe gezielt einzusetzen. Viele würden auch nach dem Projekt „Wörter an die Macht“ gern gemeinsam weiter schreiben, einige haben sogar schon Themen für weitere Texte gefunden. Vor allem aber helfe die Gruppendynamik über die Scheu vor dem weißen Blatt hinweg, sagt Mary Preuß: „Nicht lange schnacken, sondern machen – das ist es, was ich bei dem Workshop erfahren habe.“

von Annabel Trautwein

 

„Wörter an die Macht!“

Das Kurzgeschichten-Projekt „Wörter an die Macht!“ ist eine Zusammenarbeit der Schriftsteller Jörg Ehrnsberger und Thorsten Stegemann mit dem Förderwerk Elbinseln. Die dort entstehenden Geschichten sollen später als Buch erscheinen. Wer mehr über das Projekt erfahren möchte, kann sich auf der Internetseite schlau machen oder sich über die Facebook-Seite des Förderwerks Elbinseln auf dem Laufenden halten.

 

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