Frisch saniert und farbenfroh ragt das Atelierhaus23 am Ufer des Veringkanals auf. Ein Schmelztiegel für Kunst, Musik und Kreativität – so wirkt das Haus heute in den Stadtteil. Dass dort früher eine Fabrik stand, in der im Krieg Ukrainerinnen zum Schuften gezwungen wurden und viele Arbeiter tödlich erkrankten, war bisher kaum zu sehen. Nun ist die Geschichte des Hauses zurückgekehrt: Ein Kunstwerk aus historischen Dokumenten ruft die Arbeiter der alten Asbest- und Gummiwerke ins Gedächtnis und ergänzt den „Pfad für Entdeckungen“ um einen weiteren Trittstein in die industrielle Vergangenheit des Kanals.
Rauchende Schlote, krankmachender Staub und giftige Dämpfe – so stellt sich der Veringkanal auf alten Bildern und in den Dokumenten der Kriegs- und Nachkriegszeit dar. Im heutigen Straßenbild sind die Spuren der Geschichte fast verschwunden. Manche Menschen in Wilhelmsburg aber spüren sie noch immer. Aus der Fabrik, den damaligen „Asbest- und Gummiwerken Merkel“, nehmen sie Krankheiten wie Asbestose mit in ihren Lebensabend. „Die Spätfolgen treten jetzt zu Tage“, sagt Margret Markert von der Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg. „Das ist die tiefe Schattenseite des Wirtschaftswunders.“ Viele ehemalige Merkelianer seien bereits an Asbestose gestorben. Wie viele es genau sind, geben die betroffenen Firmen ungern bekannt. Nur etwa einem Viertel der Erkrankten sichert die Berufsgenossenschaft Entschädigung zu, sagt Margret Markert.
Die frühere Firma Merkel stellte Dichtungen her – unter anderem aus Asbest, der zu feinen Fäden gesponnen wurde. Das elastische, feuerbeständige Material wurde wie Hanf- oder Sisalfasern eingesetzt und war beim Wiederaufbau nach dem Krieg ein gefragter Werkstoff. Dass der Staub aus der Weißasbest-Spinnerei sich in der Lunge festsetzte und Menschen tödlich daran erkrankten, sahen nur wenige. Einer von ihnen ist Rudolf Schmidt, der früher als Betriebsrat bei Merkel arbeitete und sich für den Gesundheitsschutz stark machte. Auch andere Betriebsräte wie Harry Hellmuth, der vor rund 10 Jahren an Asbestose starb, kämpften für den Schutz ihrer Kollegen. Ihnen wollen die Historiker und Künstler aus Wilhelmsburg ein Denkmal setzen: Das Wandbild am Atelierhaus23 soll die Solidarität der früheren Merkelianer in Erinnerung rufen.
Manche Wilhelmsburger nahmen für diese Solidarität ein persönliches Risiko in Kauf: Diejenigen, die sich zu Kriegszeiten den Zwangsarbeiterinnen zuwendeten, die bei Merkel und vielen anderen Firmen eingesetzt waren. 49 Frauen aus der Ukraine mussten von 1943 bis 1945 täglich in der Asbestfabrik am Kanal arbeiten, unter noch härteren Bedingungen als die deutschen Arbeiter. Wer mit den Frauen Kontakt aufnahm oder ihnen gar half, riskierte eine Strafe – so hatten es die Nazis angeordnet. „Und trotzdem gab es hier viele, die sich daran nicht gehalten haben und im Sinne der Menschlichkeit etwas riskiert haben“, erzählt Margret Markert. „Das ist auch ein Grund, diese Geschichte zu erzählen.“
Eine persönliche Geschichte greifen die Historiker und Künstlerinnen besonders heraus: Die Freundschaft zwischen der ukrainischen Zwangsarbeiterin Marija Brodskaja und der Wilhelmsburgerin Lydia Mizdiol. Die beiden Frauen hatten sich in der Fabrik am Veringkanal kennengelernt. Nach dem Krieg kehrte Marija Brodskaja in ihre Heimat zurück, doch ihr Wilhelmsburger Schicksal ließ sie nicht los. Viele ehemalige Zwangsarbeiter vernichteten aus Scham sämtliche Dokumente ihrer Unterdrückung, erzählt Margret Markert: „Die Leute waren gesellschaftlich geächtet, weil sie für den Feind gearbeitet hatten.“ Marija Brodskaja aber nahm die Spur nach Wilhelmsburg wieder auf. Bei einem Besuch im Jahr 2002 traf sie, damals schon über 80 Jahre alt, ihre frühere Kollegin aus Kirchdorf wieder. Lydia Mizdiol half ihr, bei der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ eine Entschädigung für ihr Leid zu erwirken.
Zwangsarbeit war auf der Insel weit verbreitet
Die Asbest- und Gummiwerke Merkel zahlten Geld für solche Entschädigungen – als eine von wenigen Firmen, obwohl die Ausbeutung von Ausländern im Krieg für viele Wilhelmsburger Unternehmer selbstverständlich war. „Überall gab es Zwangsarbeiter“, erzählt Margret Markert. „Nicht nur in den Großbetrieben, auch in kleinen und mittelständischen Unternehmen.“ Damit wurde auch der ehemalige Merkel-Betriebsrat Rudolf Schmidt konfrontiert: Um an das Schicksal seiner früheren Kollegen zu erinnern, bat er bei der Stadt um eine der blauen Gedenktafeln, die an vielen historischen Orten zu sehen sind. „Da kam die Antwort: Man müsste eigentlich ganz Wilhelmsburg mit diesen Tafeln überziehen“, erzählt Margret Markert.
Nun wird den ehemaligen Merkelianern doch noch auf würdige Weise gedacht: Die Keramikerin Carla Binter und die bildende Künstlerin Tine Waldbüßer gestalteten gemeinsam mit der Geschichtswerkstatt ein vierteiliges Wandbild, das die Geschichte des Ortes anhand historischer Dokumente greifbar macht. Die Künstlerinnen wählten eine besondere Technik: Carla Binter druckte Fotos, Postkarten, Briefe und Zeitungsartikel mit eisenoxidhaltiger Farbe auf Papier und rieb die Motive auf Keramikfliesen, die nun an der Stirnseite des Hauses auf hohen Tafeln zu sehen sind. Dass die so übertragenen Dokumente die Vorlage teils nur lückenhaft wiedergeben, macht einen besonderen Reiz aus, sagt Carla Binter: „Man kann sich gut in die Bilder hineindenken.“ Die gradlinige Anordnung der Fliesen unterstützt das, findet Tine Waldbüßer. „Diese Inhalte müssen einer Struktur folgen, die sachlich ist.“
Margret Markert ist mit dem Kunstwerk sehr zufrieden. „Es ist sehr viel mehr, als Rudolf Schmidt sich mit seiner blauen Tafel vorgestellt hat“, sagt sie. Das Wandbild ist eine weitere Station auf dem „Pfad für Entdeckungen“, mit dem die Geschichtswerkstatt an die industrielle Vergangenheit des Veringkanals erinnert. Es soll nicht die letzte bleiben – an der alten Schleuse etwa gehöre noch dringend ein Verweis auf die Geschichte hin, findet die Historikerin. Doch mit dem fortschreitenden Wandel des Quartiers wird die Zeit knapp – und der Raum für Erinnerung. „Vieles hängt davon ab, welche historischen Gebäude überhaupt übrig bleiben“, sagt Margret Markert.
von Annabel Trautwein
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