Das Kaffeeliebe ist Geschichte, die Tonne hat dicht gemacht, hinter dem ehemals schrillen Schaufenster des Designladens Messie de Luxe gähnt ein kahler weißer Raum. Auch das Bistro Mittenmang und die Boutique Wilhelmine verschwinden, kaum dass sie angekommen sind – und das in Wilhelmsburgs bester Geschäftslage. Was ist geworden aus der Vision eines aufstrebenden Kultviertels, in dem sich Kaufkraft und Mietniveau harmonisch aufwärts entwickeln? Einige Ladenbesitzer stellen fest: Es reicht nicht. Wilhelmsburg ist noch weit vom Glanz seines neuen Images entfernt.
Sueheyla Akdeniz macht keinen Hehl aus ihrer Misere: „RÄUMUNGSVERKAUF“ prangt im Schaufenster, Großbuchstaben auf Packpapier. Sobald die Kleiderstangen leer sind, verschwindet die Boutique Wilhelmine aus der Ladenzeile. Kundschaft habe sie durchaus gehabt, sagt Sueheyla Akdeniz: „Es ist nur zu wenig, um davon zu leben.“ Seit rund zwei Jahren verkauft sie nachhaltig produzierte Mode an der Veringstraße – Kleider aus Bio-Baumwolle, handgemachte Schuhe, Accessoires aus Wilhelmsburger Heimproduktion. Die mutige Sueheyla Akdeniz aus Altona leiste wahre Pionierarbeit auf der Elbinsel, schreiben andere über sie auf der Facebook-Seite des Ladens. Inzwischen sagt sie selbst: „Ich war ein paar Jahre zu früh da.“
Sie sagt aber auch: Die Politik kam viel zu spät. In Wilhelmsburg habe die Zeit 40 Jahre lang stillgestanden, sagt die Boutiquebetreiberin. Die Insel habe ein Bildungsproblem, zu viele Menschen stünden ohne Job da. Wenn sie mit lokalen Politikern spreche, komme außer der Botschaft „Ich bin einer von euch“ nicht viel rüber, kritisiert Sueheyla Akdeniz. Einmal seien sogar Politiker mit Dolmetscher zu ihr gekommen. „Wenn man mit Dolmetscher kommt, dann hat man doch schon ein Kernproblem von Wilhelmsburg erfasst. Da muss man doch was tun“, sagt sie. Eine nachhaltige Entwicklung sieht sie auf der Insel nicht – erst recht nicht als Errungenschaft der IBA oder igs. „Das war alles künstlich“, sagt sie. Außer Marketing und Imagepolitik habe die Stadt wenig für Wilhelmsburg getan. Nun falle der Stadtteil in sein altes Imageproblem zurück. „Und dann komme ich auch noch mit nachhaltigen Produkten hier her, wo noch nicht einmal die Stadtentwicklung nachhaltig ist“, sagt Sueheyla Akdeniz verbittert.
Sprecherin: Politik kann Unternehmern das Risiko nicht abnehmen
Mit der Kritik kann Bezirkssprecherin Sorina Weiland wenig anfangen. „Auch in einem aufstrebenden Stadtteil ist der Anfang hart“, sagt sie. Doch das Risiko einer Geschäftsgründung könne die Stadt den Unternehmern nicht abnehmen. „Da muss man sich auch manchmal fragen: Ist es das richtige Konzept für den richtigen Ort?“ Bei solchen Fragen hilft auch das Fachamt für Wirtschaftsförderung im Bezirk Mitte. Ansprechpartner sei es aber eher für größere Firmen – von den Unternehmern im Wilhelmsburger Reiherstiegviertel habe keiner angefragt, sagt die Bezirkssprecherin. Ob ein existierender Laden Ertrag einbringt, könnten die städtischen Behörden nicht regeln. „Das liegt in der Hand der Kunden. Der Bezirk kann nur die Rahmenbedingungen schaffen“, sagt Sorina Weiland. „Da sind wir ja auch am Ball.“ Der Umbau der nördlichen Veringstraße werde auf jeden Fall im kommenden Jahr beginnen. Breitere Gehwege, ein Tempolimit zwischen Stübenplatz und Mannesallee und mehr Fläche für Gastronomie sollen die Einkaufszone des Reiherstiegviertels aufwerten. Einige Wilhelmsburger sind skeptisch: Wird hier wieder nur am Image poliert? „Wenn das Image sich wandelt, ist das ja schon die halbe Miete“, sagt die Sprecherin des Bezirksamts.
Die halbe Miete – damit wäre vielen Unternehmern im Reiherstiegviertel schon wesentlich geholfen. Sueheyla Akdeniz zahlt eine Staffelmiete. „Das wäre kein Problem, wenn ich auch im Laden ein jährliches Wachstum erwarten könnte“, sagt sie. Auch bei Messie de Luxe reichten die Einnahmen nicht, um die Miete und andere Kosten zu decken – die Betreiber verkaufen nun online und verzichten auf ihren kleinen bunten Laden in der Mokrystraße. Das Kaffeeliebe schloss nach einem Streit mit der Vermieterin die Türen. Und selbst Susan Abdul, die mit ihren Brüdern das ehemalige Mittenmang zum neuen Lokal „Flutlicht“ umbaut, findet: Die Mieten steigen, doch der Lebensstandard der Menschen im Stadtteil kommt nicht hinterher. Dennoch gehen sie und ihre Familie optimistisch an die Geschäftsgründung heran. Das „Flutlicht“ soll Café, Cocktailbar und Restaurant in einem werden, alles aus einer Hand. „Als Familienunternehmen brauchen wir kein Personal. Lediglich einen guten Koch, da wollen wir nicht sparen“, sagt die Wilhelmsburgerin. Um herauszufinden, was in der Nachbarschaft gut ankommt, zogen die Geschwister mit Fragebogen los: Was wünschen sich die Menschen im Reiherstieg auf der Speisekarte? Was finden sie überflüssig? Auch der Name des Geschäfts kam so zustande, sagt Susan Abdul. Und die Erkenntnis: Es gibt viel mehr Vegetarier als angenommen. Dem wollen die Betreiber des „Flutlichts“ entgegen kommen. Das Lokal soll sich nach dem Umbau vor allem an junge Menschen richten. „Es ist ja offensichtlich, dass immer mehr Studenten den Weg nach Wilhelmsburg finden“, sagt Susan Abdul.
In der Tonne am Veringkanal finden junge Leute zurzeit nicht einmal mehr die Biertische auf der Terrasse vor. Drinnen stehen die Barhocker seit Wochen umgedreht auf den Tischen. Nach langem Experimentieren am Konzept und oft wechselnden Öffnungszeiten gab der Inhaber bekannt: „Es ist vorbei. Wir gehen wieder zurück ans Nordufer der Elbe.“ Die vielen Sommergäste am Kanal reichten offenbar nicht – die Tonne warf für den Betreiber, der andernorts noch weitere Lokale betreibt, zu wenig Geld ab. Das konnten auch die vielen Partygäste bei den Abendveranstaltungen nicht dauerhaft ausgleichen.
Die Ansage des Rückzugs über die Elbe hat Mona Michels inzwischen von der Facebook-Seite gelöscht. Die Zeichen stehen auf Neustart: Schon am 31. Oktober will die Wilhelmsburgerin den Laden unter dem neuen Namen „turtur“ wieder eröffnen. Dann soll eine große Trash-Party starten, passend zu Halloween, mit DJs aus dem Stadtteil, schriller Deko und freiem Eintritt. Am folgenden Samstag soll die bewährte Partyreihe „Oscar treibt's bunt“ ihr Revival erleben. Im Winter soll das turtur vor allem für Abendgäste und Nachtschwärmer offenstehen. „Man kann dann schon sein Feierabendbier dort trinken und Snacks gibt es auch“, kündigt die neue Inhaberin an. Vor allem aber setzt sie winters auf Barbetrieb, Poetryslam, Kickerturniere, Konzerte von lokalen und auswärtigen Musikern und Partys wie die Donnerstags-Reihe „All Of Us“. Im Sommer soll das turtur wieder ein Restaurant werden, mit weniger Plätzen draußen, dafür aber kürzeren Wartezeiten. „Mein Wunsch ist – und es hängt davon ab, wie fit wir bis dahin sind – dass wir die Pizza zurück holen“, sagt Mona Michels. Das Wagnis eines eigenen Betriebs geht die junge Mutter gerne ein. „Ich bin einfach überzeugt, dass das laufen wird. Ich kenne ja meinen Stadtteil – und der ist zum Glück nicht die neue Schanze.“
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