Nachbarschaftshilfe nimmt Form an

Die Pasta ist schon serviert, da fängt das Tischerücken an. Viel mehr Freiwillige als erwartet sind am Dienstagabend ins Ristorante Don Matteo gekommen. 42 feste Zusagen gab es in der Facebook-Gruppe „Die Insel spendet“. Massimo Giuliotta vom Don-Matteo-Team runzelt die Stirn. „Wenn dann 70 kommen, dann wird es eng“. Er schleppt eine Biertisch-Garnitur an, ein Salat wird durchgereicht, Nachbarn begrüßen sich, das Rumpeln und Reden klingt aus. Es kann losgehen – das erste Treffen engagierter Menschen aus ganz Wilhelmsburg, die Zeit, Wissen, Sprit und Tatkraft einsetzen wollen, um Flüchtlingen im Stadtteil zu helfen.

Schon am Freitagmorgen soll die Spendenannahmestelle am Erlerring 1 ihre Türen öffnen. Bis dahin ist noch viel zu tun: Jemand muss den Pavillon, eine ehemalige Sauna, herrichten und mit Regalen bestücken. „Wir brauchen auch einen großen Tisch, um die Kleiderspenden zu sortieren“, sagt Kesbana Klein, die das Treffen moderiert. Eine junge Frau hat ein Regal zu vergeben, aber das muss erst zerlegt werden, damit es ins Auto passt. Aus der gegenüberliegenden Ecke des Raums meldet sich ein Mann. Von 12 bis 17 Uhr könnte er mit Werkzeug aushelfen. Eine andere Wilhelmsburgerin meldet sich: „Ich habe ein großes Auto. Aber ich könnte frühestens um 21 Uhr…“ Mittwoch bekommen die Helfer den Schlüssel für den Pavillon, Donnerstagabend muss der Raum fertig sein für die Kleider und Spielsachen, die in vielen Wilhelmsburger Haushalten schon in Säcken und Kisten bereitstehen. Um 10 Uhr am Freitag eröffnet die Spendenannahme. Alle, die etwas abzugeben haben, können dann am Erlerring vorbeikommen. Die Eröffnung der ersten „Kleiderkammer“ für Flüchtlinge auf der Insel wollen die Macherinnen und Macher am Samstag mit einem Nachbarschaftsfest feiern – passend zum Start des muslimischen Opferfests.

Eine gar nicht so selbstlose Idee – damit fing alles an

„Hier rollt gerade etwas großes an“, sagt Wolfgang Schröder. Am Tag, als die ersten Flüchtlinge am Karl-Arnold-Ring einzogen, gründete er „Die Insel spendet“ auf Facebook. Dass daraus ein inselweites Helfernetzwerk entstehen würde, hätte er nie gedacht, sagt er: „Ich war total überrascht, dass wir innerhalb von wenigen Tagen mehr als 300 Leute zusammen hatten.“ Im übrigen sei die Idee gar nicht so selbstlos gewesen, sagt Wolfgang Schröder. Er habe schon lange darüber nachgedacht, wie er das von Konsumgütern überquillende Kinderzimmer seines Vierjährigen entrümpeln könnte – idealerweise so, dass der Sohnemann dabei auch etwas über das Leben lernt. Also packten sie zusammen einen Karton mit Spielsachen, die der Junge an Kinder abgeben wollte, die sie dringender brauchen würden als er. „Das war der Aufhänger der ganzen Geschichte“, sagt der Wilhelmsburger. Als er dann las, dass Ipek Baran in der Facebook-Gruppe „Insel Kleinanzeigen“ organisierte Nachbarschaftshilfe für Flüchtlinge im Stadtteil anregte, brachte er die Helfer-Gruppe an den Start. Seitdem kümmert sich der freiberufliche Designer und Filmer als Administrator um die Seite und verbreitet geplante Aktionen. „Öffentlichkeitsarbeit im Backend-Bereich“ nennt er das. Für die direkte Stadtteilarbeit auf der Straße sei er sowieso nicht der richtige Typ. „Da macht Ipek viel mehr“, sagt Wolfgang Schröder.

Ipek Baran führt derzeit vier Notizbücher: Einen Terminkalender für ihr normales Alltagsleben, einen für die Aktionen von „Die Insel spendet“, ein Notizbuch für neue Hilfsangebote aus der Nachbarschaft und ein Planungsbuch, indem sie Ideen zur Koordination dieser Angebote notiert. Das Handy, über das sie mit Helfern Kontakt hält, klingelt am laufenden Band. „Noch geht es“, sagt Ipek Baran. „Ich bin ja Schülerin – und Mutter. Da lernt man, sich zu organisieren.“ Die 25-Jährige macht eine Ausbildung zur Erzieherin. Bis 16 Uhr geht sie zur Berufsschule oder ins Praktikum an der Grundschule an der Burgweide. Dann holt sie ihre Tochter aus der Kita ab, erledigt Einkäufe und Haushalt und widmet sich ihrer Familie. Abends, wenn die Kleine im Bett ist, macht sie sich an ihren neuen Freiwilligen-Job. „Dann erledige ich zum Beispiel Anrufe oder beantworte Mails“, sagt Ipek Baran. Manchmal legt sie nachmittags noch eine Tour mit dem Auto ein, vergangenen Montag zum Beispiel: Ein ganzer Bekanntenkreis hatte Spenden zusammengetragen, zehn blaue Säcke und mehrere Kartons verfrachtete Ipek Baran ins Zwischenlager. Ihr Bruder hatte noch einen Raum frei . „Da passt jetzt auch nichts mehr rein“, sagt sie.

Vor der eigenen Haustür helfen – das ist den beiden Initiatoren der Gruppe wichtig. „Was man in den Nachrichten hört, zum Beispiel aus Syrien, das ist ja gar nicht so weit weg“, sagt Wolfgang Schröder. Er finde es viel naheliegender, den Flüchtlingen im Stadtteil selbst zu helfen, als Geld in Krisengebiete zu schicken, wo dann andere etwas damit tun sollen. „Die Liebe zu dieser Insel spielt dabei auch eine Rolle“, sagt der Wahl-Wilhelmsburger. „Diese Solidarität hier ist schon etwas spezielles.“ Er ist überzeugt: Wenn die geflüchteten Familien sich in Wilhelmsburg willkommen fühlen, werden sie sich auch wie Nachbarn verhalten. Ipek Baran hat es so auch von ihren Eltern gehört. Vor 26 Jahren flüchtete die kurdische Familie mit damals sieben Kindern aus der Türkei und kam in einem Heim in Norddeutschland unter. Ipek, die damals noch nicht geboren war, fragte ihre Mutter nach den ersten Erfahrungen im neuen Land. „Anfangs wollte sie gar nicht erzählen“, sagt die Tochter. Dann erfuhr sie doch etwas: „Dass wir freundlich begrüßt wurden, das hat dazu geführt, dass wir wirklich alles hinter uns lassen konnten, wovor wir geflohen sind.“ Die Worte ihrer Mutter hat sie heute oft im Kopf, sagt Ipek Baran.

Klarkommen in Deutschland – dabei wollen Freiwillige helfen

Inzwischen hat die Initiative der beiden Ideenstifter hunderte Menschen auf der Insel mobilisiert. Sie wollen nicht nur Spenden sammeln und weitergeben, sondern den Flüchtlingen auch helfen, im deutschen Alltag zurecht zu kommen. Nach dem ersten Treffen in der Pizzeria gibt es bereits mehrere Teams: Die einen wollen Deutschkurse anbieten, die anderen bieten sich als Dolmetscher und Begleiter bei Arzt- und Behördengängen an. Manche planen Freizeitaktivitäten für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, andere wollen ein Spielzimmer in der Unterkunft einrichten und auf die Kinder dort aufpassen. Wie sie dabei vorgehen wollen, entscheiden die Teams selbst. Ein Organisations-Team bündelt die Aktionen und hält Kontakt zu den städtischen Firmen und Behörden. Auch eine Mitarbeiterin von Fördern und Wohnen ist dabei: Beate Schmid-Janssen, die selbst auf der Insel wohnt, soll die Freiwilligenarbeit im Stadtteil begleiten.

„Es ist spitze, wie das heute gelaufen ist“, sagt Ipek Baran nach dem ersten Helfer-Treffen. Nun hofft sie, dass das Engagement anhält. „Die Unterkunft am Karl-Arnold-Ring ist ja nicht die einzige, die wir in Wilhelmsburg haben werden“, sagt sie. „Wenn sich schon eine handvoll Leute findet, die dranbleibt, haben wir schon viel erreicht.“ Auch Wolfgang Schröder hofft auf langen Atem. „Wenn wir das richtig anpacken hier, kann das auch ein Beispiel sein für andere Stadtteile.“ Dass nicht alle Menschen im Stadtteil diesen Optimismus teilen, ist den beiden klar. Es gebe viele Ängste in der Nachbarschaft, sagt Wolfgang Schröder. Manche fänden, der Zustrom der Flüchtlinge sei zu viel für die Insel, auch Vorurteile und Berührungsängste spielten da hinein. „Ich finde es wichtig, dass wir von Anfang an ein Statement setzen: Wir sind viel mehr, die helfen wollen“, sagt Ipek Baran. Sie sei stolz auf die vielen Menschen, die spontan mit anpacken: „So wie ich meinen Stadtteil lieben gelernt habe – das habe ich die ganzen Jahre nicht gehabt.“

von Annabel Trautwein

 

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Kommentare

2 Antworten zu „Nachbarschaftshilfe nimmt Form an“

  1. […] Wer helfen möchte, kann sich hier informieren: Die Insel spendet und natürlich auch bei Wilhelmsburgonline […]

  2. Avatar von ErichHonecker
    ErichHonecker

    Solche Jubelartikel gab es bei uns seinerzeit anlässlich von SED-Parteitagen…

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