Hunderte Menschen aus Wilhelmsburg und der Veddel haben sich im Beteiligungsverfahren „Perspektiven!“ für ein besseres Leben auf den Elbinseln eingesetzt – jetzt soll sich zeigen, ob die Stadt die Forderungen und Wünsche auch umsetzen wird. Punkt für Punkt erörterten Fachleute des Bezirks und Engagierte von den Inseln am Dienstagabend im Bürgerhaus die Ergebnisse des „Perspektiven!“-Berichts. Das Bezirksamt schickte einen Hoffnungsschimmer voraus: In vielen Punkten wollen die Fachbehörden demnach mit den Inselbewohnern an einem Strang ziehen. Über den Konfliktstoff wollen Bezirk und Bürger weiter diskutieren – die erste Dialogveranstaltung soll der Startschuss für gemeinsames Planen sein.
Zu wenig barrierefreie Wohnungen auf der Insel – dieses Problem ist für die Aktiven der Themengruppe Inklusion offensichtlich. Die Leute beim Bezirk können daran etwas ändern, sagen sie. Denn wer baut, braucht eine Genehmigung von der Fachbehörde. Sie kann vorschreiben, dass Bauherren künftig für Rollstuhlfahrer oder Sehbehinderte mitdenken müssen. „Der Druck sollte größer sein“, sagt eine Frau in der Runde. Angesprochen ist Baudezernent Bodo Hafke, der mit am Tisch sitzt. Was kann er tun, um den Engpass möglichst schnell zu überbrücken? Ein junger Mann macht leicht stotternd einen Vorschlag: Für Studenten würden doch bei Bedarf auch schnelle Wohnunterkünfte errichtet. Ob es solche Container nicht auch mit Rampen gebe? „Aber ich will nicht in einen Container!“, ruft ein Mann im Rollstuhl. Auch der Baudezernent findet: Container können nur eine Notlösung sein. Auf Dauer müssen die Behörden die Barrierefreiheit stärker im Blick behalten, wenn es die Bauherren nicht selbst tun.
Auch die Themengruppe Wohnen hat eine Idee zum Thema. Sie fordert vom Bezirk, dass eine Agentur für inklusives Wohnen auf den Elbinseln eingesetzt wird. Sie soll sich nicht nur um Rampen für Rollifahrer kümmern, sondern auch dafür sorgen, dass niemand wegen seiner Herkunft ausgeschlossen wird. So etwas komme oft vor, sagt ein Wilhelmsburger mit deutschem Pass und türkischer Abstammung. Er brauche dringend eine größere Wohnung, damit die Tochter ein eigenes Zimmer haben kann. Einen Bedarfsschein habe die Familie – trotzdem biete der Vermieter nichts an, weil angeblich keine geeigneten Wohnungen frei seien. Ein Nachbar deutscher Herkunft dagegen konnte offenbar gleich in eine größere Wohnung umziehen, obwohl er keine Kinder habe.
Michael Mathe, Leiter des Stadtplanungsamtes beim Bezirk, will aus der Geschichte keine schnellen Schlüsse ziehen. Doch dem Verdacht, dass Vermieter bestimmte Gruppen außen vor lassen, will die Themengruppe auf den Grund gehen: Beim nächsten Mal soll sich ein Vertreter des städtischen Wohnungsunternehmens SAGA GWG dazu äußern. Die Tagesordnung für das zweite Dialogtreffen ist lang: Reichen die neu geplanten Sozialwohnungen für Wilhelmsburg aus? Wie vertragen sich Wohnen und Verkehr, wo behindern Hafen und Wirtschaft einen bedarfsgerechten Wohnungsbau? Nicht umsonst nennt sich die Themengruppe „Wohnen und noch viel mehr“. Einen Masterplan von oben lehnen die Aktiven ab. Der Bezirk müsse jede Nachbarschaft für sich in den Blick nehmen und sich auch für kleinteilige Lösungen einsetzen. Fachamtsleiter Michael Mathe stimmt zu: „Wir wollen Antworten für die Quartiere finden.“ Von der Gruppe will er deshalb vor allem wissen: Wo soll neu gebaut werden und für wen?
Es gibt noch viel zu klären – nicht nur zwischen Bürgern und Bezirk, sondern auch mit Senatsbehörden, die die Landespolitik regelt, Vereinen oder der Hamburg Port Authority, die im Hafen das Sagen hat. Sogar die Teilnehmer des „Perspektiven!“-Verfahrens sind sich nicht immer einig, wie der fast 150 Seiten starke Ergebnisbericht zeigt. Zum Beispiel will sich die Gruppe Verkehr vor allem für Radfahrer stark machen und weniger Lastwagen im Stadtteil sehen. Die Unternehmer der Hafenwirtschaft aus der Themengruppe Wirtschaft betonen die Bedeutung des Lastverkehrs für die Hamburger Wirtschaft und fordern freie Fahrt für die Logistiker.
Fachleute geben Einschätzungen ab – Punkt für Punkt
„Wir fühlen uns natürlich den Ergebnissen dieses Verfahrens verpflichtet“, sagte Bezirksamtschef Andy Grote (SPD) am Dienstagabend im Bürgerhaus. Dass der Bezirk erst ein halbes Jahr nach Übergabe des Berichts Stellung bezieht, liege daran, dass die Fachleute in den Behörden sich gründlich damit beschäftigen wollten. Am Freitag vor der Veranstaltung erhielten die „Perspektiven!“-Teilnehmer das Ergebnis: Eine rund 50 Seiten lange Tabelle, in der die Fachleute auflisten, welche Wünsche und Forderungen sie aus dem „Perspektiven!“-Bericht herauslesen. Zu jedem Punkt gibt es Kommentare und Erläuterungen: Ist der Bezirk zuständig und wenn ja, welches Fachamt? Welche Lösungen sind bereits in Arbeit? Wie kann das Anliegen der Bürger weiter vorangebracht werden? „Das ist nicht unaufwändig gewesen“, sagte Andy Grote in seiner Ansprache. „Aber ich glaube, es ist ein guter erster Schritt.“ Die Wünsche und Kritikpunkte der Bürgerinnen und Bürger auf den Elbinseln seien nun in jedem zuständigen Büro des Bezirksamtes bekannt. Wann immer eine Entscheidung getroffen wird, die die Interessen der Themengruppen berührt, soll das Papier zu Rate gezogen werden, versprach der Bezirksamtschef.
„Perspektiven! Soll der Beginn einer neuen Beteiligungskultur auf den Elbinseln sein.“ Mit diesen Worten hatte Bettina Kiehn im Mai den Ergebnisbericht der Arbeitsgruppen aus dem Stadtteil in die Hände von Andy Grote und Stadtentwicklungssenatorin Jutta Blankau (SPD) gegeben. Auch Andy Grote machte deutlich: Der Dialog im Bürgerhaus ist erst der Anfang: „Es wird noch eine ganze Reihe weiterer Dialogabende geben.“ Der nächste ist in zwei Wochen, am Mittwoch, 10. Dezember, wieder um 19 Uhr im Bürgerhaus Wilhelmsburg. Dort wollen Bürgerinnen, Bürger und Bezirksfachleute weiter an guten Kompromissen arbeiten und sich den Themen widmen, die beim ersten Treffen noch nicht zur Sprache kamen.
Dass sie nach wie vor nicht mit entscheiden können, ist den „Perspektiven!“-Teilnehmern klar. Baudezernent Bodo Hafke betonte am Dienstagabend noch einmal die „hoheitliche Kompetenz“ der Fachleute, die am Ende die Beschlüsse fassen. Auch der Bezirk Mitte muss sich bisweilen fügen, denn nicht alle wichtigen Entscheidungen werden am Klosterwall getroffen. Die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU), die Verkehrs- und Wirtschaftsbehörde oder auch die Hamburg Port Authority legen Konzepte und Pläne fest, bei dem der Bezirk nur noch beeinflussen kann, wie sie umgesetzt werden. Jüngstes Beispiel sind die neuen Richtlinien für den „Sprung über die Elbe“, die die BSU Ende September bekanntgab. Nun sehen viele Skeptiker des „Perspektiven!“-Verfahrens bereits die Felle davonschwimmen – etwa die Gruppe Engagierte Wilhelmsburger, die das Verfahren von Anfang an ablehnte und am Dienstagabend im Foyer des Bürgerhauses protestierte. Andy Grote dagegen sieht trotzdem noch Handlungsspielraum. „Es ist keine verbindliche Planung, sondern nur ein Konzept“, erklärte er. Bei allem, was davon umgesetzt werden soll, werde sich der Bezirk nicht nur an den Vorgaben der BSU orientieren, sondern auch am dokumentierten Bürgerwillen der Menschen auf den Elbinseln.
von Annabel Trautwein
Nächstes Dialogtreffen:
Mittwoch, 10. Dezember, ab 19 Uhr im Bürgerhaus Wilhelmsburg.
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