Durch die Sinne in den Kopf und durch die Hand aufs Papier – 12 Wilhelmsburgerinnen und Wilhelmsburger haben ihre Eindrücke von der Insel in Kurzgeschichten verarbeitet. Bei dem Projekt „Wörter an die Macht!“ lernten sie von den Schriftstellern Jörg Ehrnsberger und Thorsten Stegemann, was eine gute Erzählung ausmacht. Dass die Tipps der Profis funktionieren, erlebten Autoren und Zuhörer bei einer Lesung in der Bücherhalle Wilhelmsburg.
Helden gibt es in Wilhelmsburg an jeder Straßenecke: Menschen mit Furchen im Gesicht, die von Verzicht und Bitternis erzählen. Menschen, die sich vor dem Hall der eigenen Schritte im dunklen Treppenhaus fürchten. Die Autoren der Werkstatt „Wörter an die Macht!“ haben diese stillen Helden gesucht: Auf der Straße, im Bus, auf dem Markt. Sie folgten ihnen mit Augen und Gedanken, dichteten ihnen eine Vorgeschichte an, ein Gefühl oder ein Ziel – mal mehr, mal weniger nah am erlebten Wilhelmsburger Alltag. Zu Papier brachten sie Geschichten, in denen alle etwas wiedererkennen können, die sich auf der Insel zu Hause fühlen.
Das erlebten auch die rund 50 Zuhörer, die in der vergangenen Woche in die Bücherhalle Wilhelmsburg kamen. Die Autorengruppe rund um Jörg Ehrnsberger und Thorsten Stegemann hatte zur Lesung ihrer Geschichten eingeladen. Stellvertretend für die 12 Schreiber traten Jürgen Schöneich, Christoph Rommel, Harald Uebler und Yvonne Bedarf ans Mikro und trugen ihre Geschichten vor – zum ersten Mal vor Publikum.
Mit ruhiger, fester Stimme begleitet Jürgen Schöneich seine Heldin durch die trostlose Kulisse eines fremd gebliebenen Stadtteils. Er folgt der alten Frau auf jedem mühsamen Schritt und in Gedanken an die verlassene Heimat in der Türkei. Der Autor errät ihre Geschichte an feinen Details, und in feinen Details gibt er sie weiter. „Ich bin jemand, der immer gerne beobachtet“, sagt Jürgen Schöneich nach der Lesung. Die Frau, aus der er seine Heldin gemacht hat, hat er im Bus getroffen. Da falle es auch gar nicht auf, wenn jemand statt einer sms Notizen für eine Kurzgeschichte ins Handy tippt, sagt der Autor lächelnd.
Als Christoph Rommel seinen Helden „Matze“ vorstellt, der um das Überleben der Soulkitchen-Halle kämpft, schmunzeln auch die ersten im Publikum. Den Typen kennen sie doch! Christoph Rommel macht aus seinem Flirt mit der Realität keinen Hehl, lässt es dabei aber nicht bewenden: Er treibt den Eiertanz zwischen Kulturmachern und Behörden derart auf die Spitze, da erscheint ein Absturz aus schwindelerregender Fallhöhe nur noch konsequent. Die Zuhörer kichern, der Autor selbst kann sein schelmisches Vergnügen kaum verbergen. Und siehe da – als der Staub sich legt, findet sich zwischen all dem Gerümpel tatsächlich noch ein Happy End.
Bei Harald Ueblers Erzählung wird es wieder still im Publikum. Der Älteste in der Autorenrunde erzählt eine ganz persönliche, ungeschönt echte Geschichte: die Erinnerungen seiner verstorbenen Frau Marlies an die Bombennächte in Neuhof und die Nachkriegszeit auf der Elbinsel. Harald Uebler trägt Sorge für das Vermächtnis seiner Frau, immer wieder blickt er seinen Zuhörern in die Augen. Sie sind meist viel jünger als er, manche wussten vielleicht gar nicht, dass auf Neuhof früher Menschen wohnten. Ihnen ruft der Autor ein Kapitel der Elbinseln ins Gedächtnis, das sonst gern verdrängt und vergessen wird.
Als letzte der vier Schreiber trägt Yvonne Bedarf ihre Geschichte vor. Ihre Kulisse liegt im Zwielicht der Hochhäuser, im Dunkel der schattigen Treppenhäuser. Yvonne Bedarf greift das wohlbekannte Klischee vom „Ghetto“ Kirchdorf-Süd auf, schmückt es aus mit scharf beobachteten Details, macht es wiedererkennbar, greifbar, beklemmend echt. Als ihre Heldin mit zitternden Fingern nach ihrem Wohnungsschlüssel sucht, zittert auch ihre Stimme – und ihr Publikum hält den Atem an. Das Spiel mit dem Klischee ist der Autorin ein ernstes Anliegen, wie sie nach der Lesung erklärt. „Klar kenne ich den Ruf von Kirchdorf-Süd“, sagt sie. „Ich wohne schon mein Leben lang dort.“ Umso wichtiger sei es ihr gewesen, dem allzu vereinfachten Bild etwas eigenes hinzuzufügen.
Zwölf Geschichten sind entstanden, die alle einen eigenen Blick auf die Insel wiedergeben – subjektiv, aber gerade deshalb echt. Nun sollen sie auch als Buch erscheinen, idealerweise im kommenden Jahr, sagt Jörg Ehrnsberger. Von den Schreiberinnen und Schreibern der diesjährigen Runde wollen viele auch weiterhin gemeinsam an Texten und Geschichten feilen. Und sie hoffen auf Zuwachs: Im März 2015 soll die nächste Schreibwerkstatt von „Wörter an die Macht!“ starten.
von Annabel Trautwein
Zweite Lesung:
Weitere Kurzgeschichten aus dem Schreibprojekt „Wörter an die Macht!“ gibt es am 12. Februar 2015 im Café vju auf dem Bunker in der Neuhöfer Straße. Die Lesung beginnt um 19 Uhr.
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