Die Ente ist wieder da. Sie schaukelt über das kleine Rasenstück im Vorgarten auf das Haus in der Kirchdorfer Neubausiedlung zu, vorbei an Windspielen und Frühlingsblumen. „Hallo Ente“, sagt Amira*. Zwei Tage lang fehlte sie in dem vertrauten Bild vor dem Küchenfenster: Hyazinthen im Blumenkasten, Kinderfahrräder auf dem Bürgersteig, geziegelte Carports und Mülltonnen mit farbigen Deckeln, täglich kommt der Postbote auf seinem Fahrrad vorbei. Und nun ist auch die Ente wieder da. Amira lächelt. So ähnlich könnte sich anfühlen, zu Hause zu sein.
Zu Hause aber gibt es nicht mehr. Amira kommt aus der syrischen Stadt Homs. Sie hatte ein schönes Leben dort, sagt sie. Ein guter Job als Lehrerin, ein eigenes Auto. Sie hatte ihre Töchter um sich, ihr Mann hatte einen soliden Job in Dubai und besuchte die Familie so oft wie möglich. Das Haus in Homs gehörte ihr und sie hatte noch ein zweites, im Stadtteil Baba Amr. „Das ist bestimmt schon weg“, sagt Amira.
Der Krieg begann vor ihrem Fenster, in den Straßen von Homs. Anfangs waren es noch friedliche Proteste für Freiheit und Gleichberechtigung, erzählt Amira. Im Staat des Diktators Bashar al-Assad seien Alawiten, die Glaubensgenossen Assads, bevorzugt worden. Gut bezahlte Dienstposten gab es nur für sie, alle anderen hatten kaum eine Chance auf Karriere – so sahen es damals viele in Homs. Die ersten Proteste schlugen Assads Soldaten nieder, doch anders als zuvor kuschten die Demonstranten nicht vor der Staatsmacht. Tausende versammelten sich im April 2011 in der Stadt und forderten Reformen, auch Amira und ihr Mann. Sie hatten kein gutes Gefühl an dem Tag, erzählt sie heute. Kurz nachdem sie nach Hause gegangen waren, eröffnete die Armee das Feuer auf die Demonstranten. Die Müllabfuhr schaffte die Toten weg, sagt Amira.
Homs, ihre Heimatstadt, wurde zur Kampfzone. Jeden Tag von 7 Uhr morgens bis 6 Uhr abends regneten Bomben auf den Stadtteil Baba Amr, der als Rebellenstützpunkt galt. Amira konnte die Explosionen von ihrem Viertel aus sehen. „Dann weißt du: Jetzt stirbt wieder eine Familie“, sagt sie. Zwei Wochen lang blieb die Tür zu, nicht einmal zum Einkaufen trauten sie sich auf die Straße, die Telefonleitung war gekappt. Nachbarn fingen an, sich zu misstrauen und sich gegenseitig als Verräter oder Spitzel der Armee zu denunzieren. „Das gab es sogar in den Familien – der Vater gegen den Sohn, die Ehefrau gegen den Ehemann“, erzählt Amira. Vom Fenster hielt sie sich fern – Soldaten zogen um die Häuser, hielten Ausschau nach waffenfähigen Männern und jungen Mädchen. „Jede Nacht hatte ich Angst, das jemand meine Töchter mitnimmt“, sagt sie. „Dieses Gefühl werde ich nie vergessen.“
Alltag mit gemischten Gefühlen
Die jüngste Tochter Aya hat sie bei sich in dem Haus in Wilhelmsburg, wo sie nun lebt. Das Haus gehört Martina, einer Wilhelmsburgerin, die Amira in Kirchdorf-Süd kennenlernte. Sie bot ihnen an, aus der Flüchtlingsunterkunft zu ihr zu ziehen. Es ist wieder ein Provisorium, wie immer in den vergangenen vier Jahren, aber viel besser als alles, auf das sie damals hoffen konnten. Außerdem hat auch Martina eine Tochter, jünger zwar als Aya, aber vielleicht eine Freundin für sie, irgendwann. „Sie wird sehr viel daraus lernen“, sagt Martina.
Es ist ein Alltag, in dem alle lernen müssen: Nur langsam gewöhnen sich Amira und Aya daran, dass Martinas Ex-Mann zweimal in der Woche vorbei kommt. Martinas Vorschlag, mal etwas alleine zu unternehmen, einen Ausflug ins Alte Land zum Beispiel, erscheint ihnen abwegig. Auch die selbstbewusste, gebildete Amira verlässt das Haus nur, wenn sie draußen etwas zu tun hat – einkaufen, zum Arzt gehen oder zum Amt. Bei den Formularen von Jobcenter und Behörden hilft Martina ihr, doch selbst die Deutsche blickt nicht immer durch. Martina dagegen findet sich in ihrer eigenen Küche kaum noch zurecht. „Amira hat das ziemlich schnell an sich genommen“, sagt sie. „Ich koche kaum noch.“
Aya ist still geworden, sagt ihre Mutter. Seitdem sie erlebte, wie einer ihrer Schulfreunde in Homs auf offener Straße erschossen wurde, spricht sie nicht mehr viel. Aya ist 18, auf Facebook verfolgt sie, wie ihre Freundinnen von der Uni erzählen. Sie würde auch gern studieren, aber bevor sie ihr Abitur fertig machen konnte, war schon Krieg in Homs. Mit Gassim, einem 20-jährigen Syrer, unterhält Aya sich manchmal auf Arabisch. Auch er hauste anfangs in der Schule am Karl-Arnold-Ring. Gassim floh im Juli 2012 aus Syrien. Bevor er gezwungen werden konnte, für Assads Armee zu kämpfen, setzte er sich nach Saudi-Arabien ab. Er holte sein Abitur nach, doch zum Studieren hatte er als Ausländer in dem Wüstenstaat nicht die richtigen Papiere. Eine Zukunft gab es für Gassim dort nicht – und zurück nach Syrien konnte er nicht mehr.
Gassims Flucht: Mit dem Boot übers Mittelmeer
In Deutschland könnte es klappen, dachte sich Gassim. Etliche junge Syrer vor ihm hatten es geschafft und waren mit besten Karrierechancen in die Heimat zurückgekehrt, so wie Amira, die einige Jahre in Berlin gelebt hatte. Gassim kaufte sich ein Flugticket in die Türkei, von dort aus musste es irgendwie weiter gehen. Er fand einen Schlepper mit Boot, der nahm ihn mit nach Griechenland, doch mitten auf See ging der Motor in Rauch auf. Er habe Glück gehabt, dass er überhaupt wieder Boden unter die Füße bekam, sagt Gassim. Es war türkischer Boden, also heuerte er aufs Neue bei einem Schlepper an. „Und dann dasselbe wieder“, erzählt er – Motorschaden. Diesmal verfrachteten ihn die Retter an die griechische Küste, von wo aus ihn ein dritter Schlepper ins Flugzeug nach Hamburg setzte, ausgestattet mit einem falschen griechischen Pass. „Sprichst du Griechisch?“, fragte ihn ein deutscher Beamter am Flughafen in Fuhlsbüttel. Der kräftige junge Mann mit dem scheuen Blick schüttelte den Kopf. „Woher kommst du?“ „Syrien“, gab Gassim zu. Der Beamte schwieg und nickte ihn durch.
Amiras Flucht begann mit dem Besuch eines Cousins ihres Mannes. Mitten im Bürgerkriegschaos stand er plötzlich vor ihrer Tür in Homs, um sie abzuholen nach Damaskus. Ihr Mann und seine Familie hatten für alles gesorgt. Kurz darauf waren sie alle in Dubai: Amira, ihr Mann, ihre drei Töchter. Es wurde ein Zwischenstopp von zweieinhalb Jahren, ohne Option auf eine sichere Zukunft. Die Wege trennten sich: Ihre älteste Tochter lebt nun wieder in Syrien, bei Mann und Schwiegereltern, sagt Amira. Die zweite Tochter kam wie Gassim mit dem Boot über Griechenland nach Deutschland. 10.000 Euro verlangte der Schlepper für sie und ihre zwei Kinder, zwei und fünf Jahre alt. Sie wohnt heute in Dinslaken, ihr Mann ist immer noch in Homs. Amira und Aya flogen direkt von Dubai nach Deutschland und beantragten sofort Asyl. Die Mutter hat ihre Erlaubnis schon – drei Jahre lang darf sie vorerst bleiben. Um Ayas Bleiberecht bangt sie noch.
Deutschland, eine Notlösung
„Wir haben Glück“, sagt Amira. „Wir leben noch. Was wir haben, würden sich viele wünschen.“ Das Land ihrer Träume ist Deutschland trotzdem nicht. Es ist eine Notlösung, und es ist Amira wichtig, dass andere das verstehen. Die Angst vor den Bomben, die Flucht und die Sehnsucht nach ihrer Familie, die Enge in der Flüchtlingsunterkunft in der Poststraße in Harburg und später in der Schule am Karl-Arnold-Ring – all das hat ihren Anspruch auf ein würdiges Leben eher bestärkt als geschmälert. Sie nahm hin, dass sie mit fremden Männern ein Schlafzimmer teilen musste, dass sie ihre schweigsam gewordene Tochter nur mit aufgespannten Laken vor Blicken und Sprüchen abschirmen konnte. Sie nahm hin, dass sie sechs Monate so leben musste statt nur drei, wie es anfangs hieß. Dass die Sicherheitsleute ihre Einkaufstasche kontrollierten, weil sie glaubten, sie habe Essen aus dem Speiseraum gestohlen, das machte ihr Stolz nicht mit. Die Frau, die so viel ertragen hatte, weinte vor Wut. „Ich hatte so ein schönes Leben in meiner Heimat. Ich war Lehrerin, ich hatte mein eigenes Haus, mein eigenes Auto – und hier glaubt man, dass ich Brötchen klaue. Ich komme nicht hierher um zu betteln.“
Am Küchenfenster in der Neubausiedlung ist sie ihrem eigentlichen Leben wieder näher. In zwei bis drei Monaten soll Aya ihre Aufenthaltserlaubnis bekommen. Sie könnte dann endlich Deutsch lernen, so wie Gassim, und wie er auf ein Studium hin arbeiten. Amira ist fest davon überzeugt, dass es klappt. „Dann gehe ich nach NRW“, sagt sie. Sie hätte dann immerhin wieder zwei Töchter bei sich. Und eine enge Freundin in Hamburg-Wilhelmsburg dazu gewonnen, in einem Haus mit einer Ente im Vorgarten – so etwas ähnliches wie ein Zuhause.
von Annabel Trautwein
* Alle Personen im Artikel heißen in Wirklichkeit anders. Die geflüchteten Syrerinnen und Syrer möchten sich so vor Spitzeln des Assad-Regimes schützen – auch in Deutschland fühlen sie sich vor ihnen nicht sicher. Die Wilhelmsburgerin möchte auf persönliche Aufmerksamkeit für ihr Engagement in diesem Fall lieber verzichten.
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