Der Kita-Streik bringt etliche Mütter und Väter in Wilhelmsburg an ihre Grenzen: Neben Beruf, Haushalt und anderen Alltagspflichten müssen sie seit Wochen rund um die Uhr auf ihre Kinder aufpassen. Die öffentlichen Kitas bleiben weitgehend zu, Eltern helfen sich selbst: Mit Schichtplänen und viel Nervenstärke halten sie die Betreuung in einigen bestreikten Tagesstätten aufrecht. Die Gruppe Wilhelmsburg Solidarisch unterstützt das Engagement mit Tipps und Kontakten – auch, um den Druck nach oben weiterzuleiten und Politiker in die Pflicht zu nehmen. Ein Verhandlungsangebot der kommunalen Arbeitgeber lässt Eltern hoffen. Doch solange die Streiks nicht ausgesetzt sind, wollen sie weiter Druck machen und sich gegenseitig helfen.
Seit Wochen ist Notstand angesagt in den öffentlichen Kitas der Elbinsel: Die Türen bleiben zu, die Erzieherinnen schlagen nun selbst Krach. Bei dem bundesweiten Streik geht es nicht nur um bessere Gehälter, erklären Gewerkschaften und ihre Mitstreiter. Die Leistung von Erzieherinnen, Heilpädagogen oder Sozialarbeiter soll allgemein Anerkennung erfahren. Denn obwohl viele in diesen Berufen studiert oder lange Ausbildungen gemacht haben und immer mehr leisten müssen, bekommen sie für ihre Arbeit oft wenig Respekt. Dass ihre Kompetenz von oft unterschätzt wird, zeigte sich besonders deutlich nach der Pleite der Drogeriekette Schlecker: Als tausende Kassiererinnen arbeitslos wurden, schlug die damalige Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen vor, sie nach kurzer Umschulung als Erzieherinnen oder Altenpflegerinnen einzusetzen. Das Signal: So eine Arbeit kann doch fast jede.
Eine voll ausgebildete Erzieherin in einer öffentlichen Hamburger Kita steigt mit einem Bruttogehalt von 2.478,17 Euro ein, schreibt die Vereinigung Elbkita – wenn sie in Vollzeit arbeitet, was auf die wenigsten zutrifft. Netto bleiben selbst im steuerlich günstigsten Fall weniger als 1.700 Euro übrig. Selbst bei einer vollen Stelle können Erzieherinnen sich also nicht viel leisten – für Kinder und Eltern sollen sie aber mehr leisten als je zuvor. So kann es nicht weitergehen, sagen die Gewerkschaften ver.di und GEW. Sie fordern eine Neuregelung der Tarife und 10 Prozent mehr Gehalt. Am Donnerstag gingen dafür 15.000 Menschen in der Hamburger Innenstadt auf die Straße. Dass der Verband kommunaler Arbeitgeber nun auf Bundesebene ein Angebot auf den Verhandlungstisch legt, stimmt nur wenige optimistisch. Die Drohung der Gewerkschaften, den Streik bis zu den Sommerferien fortzusetzen, bleibt bestehen.
Eltern nehmen ihre Kinder mit zur Arbeit
Für viele Eltern in Wilhelmsburg ist diese Aussicht erschreckend. Schon jetzt seien sie manchmal gezwungen, ihre Kinder morgens mit zur Arbeit zu nehmen, berichten einige Eltern beim Treffen der Gruppe Wilhelmsburg Solidarisch. Die Gruppe zählt inzwischen rund 40 Väter und Mütter, die den Streik der Erzieherinnen unterstützen, obwohl sie selbst darunter leiden. Beim Treffen in der BI Rudolfstraße schilderten einige ihre Lage: Nur in Glücksfällen sind demnach Großeltern in der Nähe, die sich um ihre Enkel kümmern können. „Notgruppen“ in den Kitas gibt es nur für wenige. Was können Eltern also tun?
Die Aktiven von Wilhelmsburg Solidarisch hatten sich über einen befreundeten Rechtsanwalt schlau gemacht: Mütter und Väter können durchaus Entlastung einfordern. Wer von einem Streik überrascht wird, kann zum Beispiel vom Chef verlangen, zur Überbrückung der Notlage freigestellt zu werden, während weiter Gehalt gezahlt wird. Bei einem Streik, der schon lange öffentlich bekannt ist, verfällt zwar der Anspruch, erläuterte eine Helferin der Gruppe. Der Versuch lohne sich trotzdem. Stellt sich der Arbeitgeber quer, könnten Eltern auch eine unbezahlte Freistellung erwirken oder bezahlten Urlaub einfordern. Im Zweifelsfall stünde dann aber ein Gerichtsverfahren gegen den Chef an – einen Anspruch haben Eltern wegen des Kita-Streiks nicht. Die beste Lösung nach Einschätzung von Wilhelmsburg Solidarisch ist die Krankmeldung: Zum einen haben Mütter und Väter Anspruch auf bis zu 10 freie Tage, wenn ein Kind krank ist – bei Alleinerziehenden sind es 20 Tage. Zum anderen könnten auch die Eltern sich krank schreiben lassen, wenn ein Arzt attestiert, dass die Doppelbelastung von Job und Familie ihrer Gesundheit schadet. All diese Lösungen helfen jedoch nur den Eltern, die festangestellt arbeiten. Wer eine eigene Firma hat oder freiberuflich arbeitet, kann keinen Chef um Hilfe bitten. Neben Zeit können Eltern aber auch Geld einfordern – schließlich tragen sie einen Teil der Kosten für die Kita-Plätze, die nun leer bleiben. Die Vereinigung Elbkinder hat bereits ein Formular ins Netz gestellt, mit dem Eltern ihre Beiträge zurückfordern können.
Eltern sind mit Gruppen schnell überfordert
Während in der Innenstadt die Demos und Kundgebungen weiter laufen, organisieren sich Eltern in Wilhelmsburg selbst. Die Kita an der Sanitasstraße etwa wird seit einer knappen Woche von Eltern am Laufen gehalten. Die Koordination ist nicht einfach, erzählt eine berufstätige Mutter beim Treffen von Wilhelmsburg Solidarisch. Wer kann, trägt sich in Schichtpläne ein und übernimmt zwei oder drei Stunden am Tag, manche auch mehrere Schichten nacheinander. Es läuft, berichtet die Wilhelmsburgerin. Doch es läuft alles andere als ideal. „Wir können für unsere eigenen Kinder sorgen, aber mit einer ganzen Gruppe sind wir überfordert. Da sehen wir, was die Erzieherinnen jeden Tag leisten.“
Um auch andere Eltern zur Selbsthilfe zu motivieren, will die Gruppe nun einen Leitfaden mit Tipps und Informationen zu Versicherungsschutz und anderen rechtlichen Fragen entwickeln. Zudem wollen sie ihr Netzwerk ausweiten – nicht nur auf der Insel, sondern in ganz Hamburg sollen Eltern sich solidarisch zeigen und selbst aktiv werden können. Dabei wollen die Mütter und Väter aus Wilhelmsburg den Druck dorthin weiterleiten, wo über die Arbeitsbedingungen in den Kitas entschieden wird: Senat und Bürgerschaft sollen spüren, dass sie für gute Kinderbetreuung mehr Geld ausgeben müssen.
von Annabel Trautwein
Mitmachen:
Anlässlich des internationalen Kindertags am 1. Juni wollen sich Eltern und Kinder am Montag vor dem Rathaus versammeln, Spielen und Krach machen. Die Aktion soll Politiker zum Handeln auffordern und Solidarität mit den Erzieherinnen zeigen. UM 10 Uhr geht es los auf dem Hamburger Rathausmarkt.
Die Gruppe Wilhelmsburg Solidarisch trifft sich weiterhin, um über Lösungen für Streikbetroffene zu sprechen und Aktionen und Selbsthilfe zu organisieren. Das nächste Treffen ist geplant für Donnerstag, 4. Juli um 19:30 Uhr. Ort des Geschehens ist diesmal nicht auf der Insel, sondern im Kulturhaus Eppendorf (Julius-Reincke-Stieg 13a).
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