Wilhelmsburg soll mehr Menschen ein Zuhause bieten. Ein neues Wohngebiet ist geplant, mitten auf der Insel. Was genau zwischen Rathauswettern und Dratelnstraße gebaut wird, wer dort später Leben soll und was für die neue Nachbarschaft wichtig ist, sollen die Menschen in Wilhelmsburg diesmal frühzeitig mitbestimmen. Am Mittwoch haben sich rund 40 Leute zu einem „Perspektiven“-Workshop im Bürgerhaus getroffen, um Wünsche und Ideen zu entwickeln und mit Fachleuten zu besprechen. Was dabei herauskam, soll direkt in den Ausschreibungstext für Architekten und Stadtplaner einfließen, versprechen IBA und Bezirksamt. Die Inselbewohner sollen von Anfang an einbezogen werden. Ganz weiß ist die Karte für das neue Quartier jedoch nicht: Der Senat hat schon Prioritäten gesetzt.
Gute Nachbarschaft gelingt nicht, wenn jeder in den eigenen vier Wänden hocken bleibt – das neue Quartier braucht schöne Treffpunkte im Freien, sagt eine junge Frau mit bunt lackierten Fingernägeln. Sie sitzt an einem der Planungstische, zusammen mit Bezirksamtschef Andy Grote, einigen Nachbarn von der Insel und der Bürgerhaus-Leiterin Bettina Kiehn, die sie gerade kennengelernt hat. Unter ihrem Stuhl liegt ihr Hund. Was ihr auch noch wichtig wäre: Ökologische Lösungen fürs Wohnen, nicht nur in der Bauphase. „In Hamburg regnet es öfter, habe ich den Eindruck“, sagt sie. „Da könnte man darüber nachdenken, in einige Wohnungen Regenwassertoiletten einzubauen.“ Außerdem sollte die Stadt von Anfang an einen Teil der Wohnungen für Flüchtlinge bereithalten, schlägt sie vor. Dass Flüchtlinge auf der Insel nicht nur untergebracht, sondern auch heimisch werden, ist auch den Bürgerinnen und Bürgern am zweiten Tisch wichtig. Die Planer sollten den öffentlichen Raum aus der Perspektive von Fußgängern gestalten, regt ein Wilhelmsburger an. Er selbst lebt im südlichen Reiherstiegviertel, nah am Gewerbegebiet mit seinen großen Hallen und dem Lkw-Verkehr.
Ein Nachbar aus der Umgebung des Assmann-Kanals hat eine ganz andere Sorge: Er wünscht sich einen „Schutz vor Großveranstaltungen“ vor seiner Haustür. „Ich will keinen Marathon auf dem Loop“, verkündet er. Bezirksamtschef Andy Grote lächelt skeptisch und schweigt. Er ist gerade nicht dran. Erst einmal sollen die zu Wort kommen, für die das neue Quartier eines Tages Nachbarschaft sein wird. Dazu gehören auch Menschen, die nicht mit an den Planungstischen sitzen: In sogenannten Stadtteilgesprächen erkundigen sich Fachleute vom Stadtentwicklungsverband vhw bei 16 weiteren Wilhelmsburgern nach ihrem Bedarf und ihren Ideen. Dabei kam heraus: Die befragten Eltern wünschen sich Spielplätze, auf denen auch Kinder unter Drei ihren Spaß haben. Ältere Menschen und andere, die nicht gut zu Fuß sind, hätten dagegen gerne mehr Parkbänke zum Ausruhen. Solche Wünsche ließen sich in einem Aufwasch erfüllen, finden die Leute im Bürgerhaus.
Alltagserfahrungen der Wilhelmsburger sollen zu guter Planung beitragen
Der Rat der Menschen aus dem Stadtteil ist wichtig, sagen die Planer von Bezirk und IBA. Was in Wilhelmsburg gut ankommt und was noch fehlt, wissen sie aus Erfahrung. Damit das neue Quartier den Bedarf der Menschen auch trifft, sollen sie diesmal von Anfang an mitreden – und nicht im Nachhinein feststellen, das so gut wie alles schon beschlossene Sache ist. Beim neuen Quartier an der Dratelnstraße sei noch fast alles offen, sagt der Bezirksamtschef zu Beginn des Workshops: „Wir sind dabei, einzusteigen in den Planungsprozess.“ Es gehe nicht nur darum, eine neue Nachbarschaft zu gestalten. Das Verfahren soll auch die Gewohnheiten beim Planen von Bauprojekten auffrischen und dafür sorgen, dass künftig kein Frust mehr aufkommt, weil sich engagierte Leute von den Behörden bevormundet und bei der Bürgerbeteiligung übertölpelt fühlen. Dazu will der Bezirk an das „Perspektiven“-Verfahren aus Wilhelmsburg anknüpfen.
Wie viele Wohnungen gebaut werden auf der rund 30 Hektar großen Fläche zwischen Rathauswettern, Dratelnstraße, Rotenhäuser Straße und Kurdamm, ob es hohe Mietskasernen werden, Reihenhäuser oder kleine Eigenheime mit Vorgarten – all das soll erst im Herbst entschieden werden. Zuerst gehen die Ergebnisse des Workshops und der Stadtteilgespräche an die IBA, die die Tipps und Wünsche in den Auslobungstext für Architekten, Stadt- und Landschaftsplaner einfließen lassen will. Wenn alle zuständigen Behörden ihr Okay zu dem Text gegeben haben, wird ausformuliert, was die Planer leisten sollen.
Wie sie das vorgegebene umsetzen, soll wiederum mit Interessierten aus dem Stadtteil abgestimmt werden: Die IBA kündigt dazu eine „Gläserne Werkstatt“ an, die öffentlich sein soll. Vier Architektur- und Planungsbüros werden dazu eingeladen. Sie sollen sich das Gelände ansehen, mit Experten für Lärmschutz oder Verkehrsplanung sprechen und sich auch die Ergebnisse aus dem Beteiligungsverfahren noch einmal genau ansehen. Im Juli soll die „Gläserne Werkstatt“ mit einer Auftaktveranstaltung beginnen. Danach arbeiten die Planer an ihren Konzepten, mit denen sie um den Auftrag wetteifern. Im September sollen die Ergebnisse vorab geprüft werden, dann geht die „Gläserne Werkstatt“ mit einer öffentlichen Präsentation. Welche Firma am Ende den Auftrag zur Gestaltung des neuen Quartiers bekommt, soll ein Preisgericht entscheiden, zu dem auch eine Wilhelmsburgerin oder ein Wilhelmsburger samt Stellvertreter gehören soll.
Wünsche widersprechen sich – und auch der Senat mischt mit
Das neue Planverfahren soll den Einfluss der Wilhelmsburger stärken. All ihre Wünsche erfüllen kann es jedoch nicht. Zum einen deshalb, weil die Insel nicht mit einer Stimme spricht: Die einen wollen mehr Ruhe vor der Haustür, andere wollen Spiel- und Sportplätze möglichst nah am Wohngebiet. Manche beklagen einen Mangel an Autoparkplätzen, andere wollen den motorisierten Verkehr möglichst eindämmen und dafür den Radverkehr fördern. Zum anderen hat der Senat schon Vorgaben in die Karte für das neue Quartier eingezeichnet. So gilt mit dem Rahmenkonzept „Hamburgs Sprung über die Elbe – Zukunftsbild 2013+“ als beschlossene Sache, dass der Damm unter der heutigen Wilhelmsburger Reichsstraße eingeebnet wird. Die geplante Anschlussstelle Rotenhäuser Straße ist ebenfalls fest vorgesehen, als Ersatz für die Abfahrt Wilhelmsburg Mitte. Auch dass die Sportplätze an der Dratelnstraße als eine von drei Sportzentren der Insel erhalten bleiben sollen, steht im Konzept des Senats, das SPD und Grüne im Koalitionsvertrag noch einmal bekräftigten.
Doch selbst wenn die Menschen in Wilhelmsburg ganz allein bestimmen könnten – eine Zufriedenheits-Garantie für die künftigen Bewohner des Quartiers gäbe es trotzdem nicht. „Die, die später da wohnen werden, sitzen jetzt nicht mit am Tisch“, gibt Andy Grote in der Planungsrunde zu bedenken. „Eigentlich bräuchte man noch ein zweites Beteiligungsverfahren, mit den konkreten Bewohnern.“ Was bis zum Einzug der neuen Nachbarn noch nicht umgesetzt ist, könnte dann noch einmal auf den Tisch kommen.
von Annabel Trautwein
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