Die Erstaufnahmestellen für Flüchtlinge in Wilhelmsburg platzen aus allen Nähten: 800 Menschen zusätzlich sollen an der Dratelnstraße in Zelten unterkommen, auch am Karl-Arnold-Ring will die Innenbehörde weitere Plätze schaffen. Bezirk und Stadtteilbeirat laufen Sturm: Die Belastung für die Insel sei zu groß. Doch wen in Wilhelmsburg belastet der Zuwachs in den Flüchtlingsunterkünften überhaupt?
Bisher war von 500 oder 650 zusätzlichen Plätzen die Rede – Frank Reschreiter, Sprecher der Innenbehörde, spricht von am Donnerstag von 800 Menschen, die der Senat kurzerhand in einem Zeltlager an der Wilhelmsburger Dratelnstraße einquartiert hat. Den Zahlen auf seinem Schreibtisch zufolge leben in den Containern nebenan derzeit fast genauso viele geflüchtete Frauen, Männer und Kinder, sagt er im Gespräch mit WilhelmsburgOnline.de. Jedenfalls seien es insgesamt 1.600 Plätze. Die Statistik ändert sich täglich, die Behörde kommt kaum hinterher. Die aktuellste Zahl der Flüchtlinge in der leerstehenden Schule am Karl-Arnold-Ring ist von Dienstag: 245 Personen, sagt der Sprecher auf Anfrage. Auch dort sollen noch rund 30 weitere Plätze entstehen. „Da gibt es noch eine Turnhalle“, sagt Frank Reschreiter.
Zeltlager Dratelnstraße – laut Behörde der einzig geeignete Platz in Hamburg
Rund 200 Flüchtlinge pro Tag kommen laut Innenbehörde derzeit neu in Hamburg an. Im Juni zählte sie 14.000 Neuankömmlinge, im April waren es knapp halb so viele. Es sei ein „massiver Ansturm“, sagt Frank Reschreiter. Schon im ersten Halbjahr 2015 ist die Gesamtzahl von 2014 überschritten. Doch wegschicken kann Hamburg die Menschen auch nicht – Flüchtlingen Schutz zu bieten ist gesetzliche Pflicht. Insofern habe der Senat aus der Not heraus entschieden, als er bei seiner Sitzung am 30. Juni beschloss, das Lager an der Dratelnstraße um 800 Zeltschlafplätze zu vergrößern. „Es war die einzige Möglichkeit“, versichert der Behördensprecher. Im ganzen Stadtgebiet habe es keine andere Fläche gegeben, auf denen die Menschen hätten unterkommen können. Es seien zwar andere Standorte vorgeschlagen worden, aber keine brauchbaren. Welche Vorschläge das gewesen seien, kann Frank Reschreiter auf die Schnelle nicht sagen. Bei der Sitzung sei er nicht dabei gewesen, sagt er.
Normalerweise entscheiden in Hamburg Senat und Bezirke gemeinsam, wo Flüchtlinge versorgt werden sollen. Die Bezirke schlagen Orte vor, Innenbehörde und Sozialbehörde prüfen. Diesmal lief es anders – erst im Nachhinein erfuhren Andy Grote und sein Team aus Hamburg-Mitte von der Verdoppelung an der Dratelnstraße. Der Bezirksamtschef haute auf den Putz: „Wilhelmsburg wird über seine Leistungsgrenzen hinaus belastet. Sowas darf man nicht machen“, kritisierte er im Interview mit Hamburg1. Auch Mopo und Abendblatt berichteten vom Zoff zwischen Bezirk und Senat. Der Ärger im Bezirk hat sich noch nicht gelegt. „Es wurden Fakten geschaffen“, kritisiert Sprecherin Sorina Weiland. Gute Zusammenarbeit aber hätte Absprachen erfordert. Nur das Wort „Belastung“ gefällt ihr nicht. Sie sagt: „Man darf die Geduld auch nicht überstrapazieren.“
Lutz Cassel, Vorsitzender des Stadtteilbeirats Wilhelmsburg, drückt sich weniger diplomatisch aus. „Das Haus ist voll“, sagt er im Gespräch mit WilhelmsburgOnline.de. Die Stadt missbrauche die Insel und ihre „bisher überaus toleranten Bürger“ als „Abladeplatz“, schreibt er in einer Stellungnahme des Beirats. „Ein solches Vorgehen gegenüber einem der ärmsten Stadtteile im Bezirk Mitte kommt einem Rückfall in die 60er, 70er und 80er Jahre gleich, wo durch die Besiedelungspolitik der damaligen Hamburger Senate eine Verschlechterung der Soziostruktur Wilhelmsburgs bewusst in Kauf genommen wurde.“ Ob dieser Vergleich die Meinung der Vertreter aus den Quartieren spiegelt, ist offen – die letzte Sitzung lag vor dem Senatsbeschluss. Für Lutz Cassel jedoch ist klar: So viele Flüchtlinge sind schlecht für die Insel.
Wer spürt eine Belastung – und warum?
Doch wieso gilt es überhaupt als Last für die Wilhelmsburger, wenn geflüchtete Frauen, Männer und Kinder in ihrem Stadtteil leben? Auf diese Frage weiß der Beiratsvorsitzende auch keine klare Antwort. Störungen im sozialen Getriebe sehe er nicht, räumt er auf Nachfrage von WilhelmsburgOnline.de ein. Außerdem, so führt er an, fielen die Flüchtlinge unter den vielen Wilhelmsburgern ausländischer Herkunft optisch kaum auf. Konkrete Klagen von Anwohnern habe er auch nicht vernommen. Trotzdem fürchtet der Beiratsvorsitzende, dass die viel gelobte Willkommenskultur in Wilhelmsburg Schaden nimmt. „Sie könnte umkippen, wenn man immer weiter reinsteckt und reinsteckt“, sagt er.
Ein Anruf beim Verein „Die Insel hilft“ zeigt: 800 Flüchtlinge zusätzlich können belastend sein – für die Menschen, die tatsächlich anpacken und helfen. „Wir kommen an unsere Grenzen“, sagt Diana Ennet. Als Vorsitzende des Vereins koordiniert sie Kleiderspenden für Flüchtlinge, Deutschkurse, Freizeitgruppen und Begleiter für Amts- oder Arzttermine. Dass es diese Hilfen gibt, ist vielen engagierten Bürgerinnen und Bürgern aus Wilhelmsburg zu verdanken. Nach monatelangem Einsatz aber findet der Verein immer weniger Helfer, die zuverlässig mitmachen. Gerade erst mussten sie die Öffnungszeiten der Kleiderkammer auf einen Tag begrenzen, erzählt Diana Ennet – und am nächsten Tag standen plötzlich hunderte Neuankömmlinge aus dem Zeltlager Dratelnstraße vor der Tür, die dringend Kleidung brauchten. „Wir helfen allen, die da sind – sofern wir können“, sagt die Wilhelmsburgerin. Aber oft kann auch sie nicht mehr.
Das Engagement auf der vermeintlich sozial schwachen Insel hat sich herumgesprochen in Hamburg. Bei der Entscheidung für den Standort Dratelnstraße habe das aber sicherlich keine Rolle gespielt, versichert Behördensprecher Frank Reschreiter. Diana Ennet denkt anders darüber. „Es gibt schon das Gefühl: Da in Wilhelmsburg herrscht Multikulti, die kriegen das schon hin“, sagt sie. Auch sie wünscht sich, dass andere Stadtteile mehr Flüchtlinge aufnehmen. „Nicht, weil wir die hier nicht haben wollen“, fügt sie schnell hinzu. Mit Stimmen, die Flüchtlinge per se als Last und Makel für den Stadtteil darstellen, will sie nichts zu tun haben. „Leuten Schutz zu geben, die auf der Flucht sind und Angst haben, ist unsere Pflicht“, sagt sie. „Wir wünschen uns, dass Flüchtlinge genug Menschen um sich haben, die ihnen helfen wollen und können.“
[tweetbutton]
Schreibe einen Kommentar zu Victor Antworten abbrechen