Im Turtur fand am Sonntagabend wieder eine Veranstaltung jenseits von elektronischer Tanzmusik statt: Der Infoladen, die Buchhandlung Lüdemann und Marco Moreno luden den Fotografen Matthias Stolt ein, der von der Flucht seiner fünf Hamburger Großonkel vor dem zweiten Weltkrieg und dem NSDAP-Regime erzählte – die Brüder segelten gen Galapagos.
Mitte der 30er Jahre begannen in Deutschland die Kriegsvorbereitungen. Auch die Brüder Angermeyer aus Harburg wurden gemustert und beschlossen, einen Krieg nicht mitmachen zu wollen: Karl, Gusch, Hein, Hans und Fritz flohen. Wie es sich für waschechte Hamburger gehörte, ging es durch das Tor zur Welt vom Harburger Hafen über die Meere, um nach diversen Pleiten, Pech und Abenteuern endlich auf den Galapagos-Inseln zu landen und sich dort niederzulassen. Um dies möglich zu machen und die Flucht zu finanzieren, hatten ihre Eltern das Familienhaus verkauft und zogen in eine Moorburger Mietwohnung. Sie wollten nach Kriegsende den Söhnen in ihre neue Heimat folgen, doch so weit kam es nicht: Die Eltern starben sie in den Bombardements der Alliierten.
Über die Brüder und deren Reise berichtete auf der Turtur-Bühne der Großneffe der Angermeyers, der Fotograf Matthias Stolt. Sein Buch „Kurs Galapagos!“ bildete die Basis für den Abend, doch die Zuschauer im bis auf den letzten Platz besetzten Stuhlreihen im Turtur bekamen mehr geboten als eine reine Lesung. Matthias Stolt zeigte zunächst Fotos von der Flucht der Brüder, berichtete von seinen Verwandten und von seiner Recherche über die Angermeyer-Familie, während der Schauspieler Hartmut Pfaff Auszüge aus dem Buch vorlas. Die Dynamik der beiden Herren auf der Bühne sorgte dabei für einen unterhaltsamen Abend.
Im zweiten Teil der Veranstaltung berichtete Matthias Stolt von seinen eigenen Reisen auf die fernen Inseln, wo er den Angermeyer-Brüdern nachspürte. Diese waren in den 60er Jahren regelrechte Berühmtheiten in Deutschland geworden, sogar die Illustrierte BUNTE widmete ihnen einen Fortsetzungsroman. Auf den Heimatbesuchen von Karl, auf denen auch Fernsehauftritte und Talkshowteilnahmen anstanden, lernte der damals sechsjährige Matthias seinen Großonkel kennen und war gebührend beeindruckt. Die Grundlage für seine spätere Spurensuche und die Faszination für seine Verwandten in der Ferne war gelegt.
Nur ein Bruder kehrte zurück
„Ja, wenn ich auswandern wollte – solche Gedanken hat man ja schon ein-, zweimal im Leben – könnte ich natürlich dort auf meine Familie zurückgreifen. Davon abgesehen wären vielleicht nicht gerade die Galapagos-Inseln meine erste Wahl“, bekennt Matthias Stolt. „Aber die Angermeyers haben sich dort gut eingelebt, Familien gegründet und leben immer noch in guter Nachbarschaft. Die Brüder selber sind, abgesehen von Karl, nicht mehr nach Deutschland zurückgekehrt. Das war zu weit weg – in jeder Hinsicht.“
Was dramatisch begann als ein Flucht vor dem NS-Regime und dem zweiten Weltkrieg, dem Tod der Angehörigen im Alliierten-Bombardement und dem Verlust des Schiffes, hatte ein gutes Ende: eine Hamburger Familie konnte eine neue Heimat finden. Eine Flüchtlingsgeschichte, die gerade heute wieder nachdenklich macht.
[tweetbutton]
Schreibe einen Kommentar