Gemeinsam feiern für gute Nachbarschaft

مساء الخير – und jetzt alle! Der Reihe nach sollen die Schüler einen guten Abend wünschen. „Wie – schon auf Arabisch?“ fragt die syrische Sprachlehrerin Rosa verblüfft. Isabel, die den Kurs moderiert, meint: „Klar! Die Menschen, die hier sitzen, wollen, sollen und müssen Arabisch lernen!“ Die Scheu in den Gesichtern der Schüler lacht die resolute Baskin einfach weg. Bei einem 30-Minuten-Kurs gibt es keine Zeit zu verlieren. Also wie war das noch mal? Misaal chayr? Masaa al-chayr? Die Wörter sind gar nicht so leicht zu verstehen – aus dem Foyer des Bürgerhauses schallt Gitarrenmusik hoch, auf der Galerie herrscht dichtes Treiben. Immer wieder lugen Neugierige durch die Scheiben ins Klassenzimmer oder schlüpfen durch die Tür hinein. Massa al-chayr!

Es ist ein bunter Kreis in Raum 110. Eine Spanierin ist dabei, eine Koreanerin, eine Mexikanerin, die meisten sind Deutsche aus Wilhelmsburg oder Umgebung. Auch eine Palästinenserin und zwei junge Syrer sind gekommen – „die Fortgeschrittenen“, wie Isabel sie nennt. Son aus Korea wagt sich sogar an die fremde Schrift heran. „Von rechts nach links“, korrigiert Rosa, als Son das Kreidestück an die Tafel setzt. „Ach echt?“ Nach 30 Minuten hat die Klasse schon einiges drauf: Guten Abend! Ich heiße… Ich komme aus… Ich wohne in… Wie spät ist es? „Und jetzt noch ein Wort, das euch besonders wichtig ist“, sagt Isabel. „Amore!“ ruft Claudia aus Tornesch. „Die Liebe!“ Alle sind gespannt. Rosa stellt sich in den Kreis wie eine Dichterin und spricht es aus, das große Wort: „Hubb.“ Was? Wie klingt das denn? „Vielleicht kennt ihr ein ähnliches Wort“, sagt Rosa: „Habibi – mein Lieber.“ Ein Raunen macht die Runde. Wieder was gelernt.

Es gibt eine Menge zu lernen beim Wilhelmsburger Willkommensfest im Bürgerhaus: Arabisch, Farsi und Pashtu im Schnellkurs, Kalligrafie, Musik, HipHop, Hula Hoop und für Frauen orientalischen Tanz. Lokale Gruppen wie der Verein Zukunft Elbinsel, das Museum Elbinsel Wilhelmsburg, das Inselwerk und natürlich die große Freiwilligeninitiative „Die Insel hilft“ stellen sich vor und informieren über ihre Arbeit im Stadtteil. Gärtnerinnen des Interkulturellen Gartens kochen direkt an Ort und Stelle einen Topf Suppe und rufen zum gemeinschaftlichen Gemüseschnippeln auf, Gäste bringen Kuchen fürs Büfett mit. Auch die Musik soll von allen für alle sein: Im kleinen Saal trifft sich die Wilhelmsburger Weltkapelle zum offenen Musizieren, im Foyer formieren sich Paare und Kreise zum Folkstanzwirbel oder zum Feiern heißgeliebter Hits aus der Heimat. Um 19 Uhr sollte das Fest enden – doch die Party ist dann noch lange nicht vorbei.

Zum ersten Mal direkt in Kontakt

„Ich bin total beeindruckt“, sagt Claudia aus dem Arabischkurs. In Tornesch, wo sie wohnt, gebe es zwar auch Flüchtlinge, laut Presse etwa 200 bis 300. „Ich habe das aber gar nicht so an mich ranlassen wollen“, erzählt sie. Auf Facebook blockte sie alle Freunde, die sich politisch über das Thema äußerten. Die ständige Meinungsmache, die viele Polemik – sie habe davon einfach nichts wissen wollen. „Als die ersten Flüchtlinge nach Deutschland kamen, war ich schon etwas ängstlich und auch etwas negativ eingestellt“, erzählt Claudia. Auf die Offenheit ihrer erwachsenen Kinder aber war sie von Anfang an stolz. Auch eine Freundin aus Wilhelmsburg, die sich fast täglich bei „Die Insel Hilft“ engagiert, beeindruckte sie. Dieselbe Freundin nahm sie schließlich mit ins Bürgerhaus – Claudias erster direkter Kontakt mit geflüchteten Menschen. „Sowas sollte es viel öfter geben“, sagt sie und blickt von der Galerie des Bürgerhauses auf die tanzende Menge im Foyer hinunter. „Alle sollten sowieso mehr miteinander reden. Die Leute gehen viel zu oft aneinander vorbei.“

Auch das soll das Fest im Bürgerhaus bewirken – dass Menschen ins Gespräch kommen, die sich sonst kaum begegnen. Am leichtesten fällt es den Kindern im großen Saal. Im Bällebad wollen sowieso alle spielen, und Hula Hoop oder Tischtennis versteht jeder auch ohne Sprache. Auch einigen Erwachsenen gelingt es, sich auszutauschen und ein bisschen mehr zu erfahren über die Lebenswelt der anderen. „Deutschland und die Menschen hier sind gut!“, erzählt Amira aus Aleppo in einem Gemisch aus Englisch, Deutsch und Arabisch. In ihrer Heimat war sie Anwältin, ihr Mann ist Arzt. Er verpasst das Fest, weil er in der Nacht zuvor noch einem kranken Bekannten helfen musste. Seit sechs Monaten lebt die Familie in einem Zimmer in der ehemaligen Schule am Karl-Arnold-Ring – gemeinsam mit drei weiteren Familien. „Das ist schwierig“, sagt Amira. „Fürs Schlafen, fürs Lernen, für alles.“ Ihre Kinder sind neun und sechs Jahre alt, bald sollen sie auf eine normale Schule gehen, doch die Enge stresst sie, sagt Amira. „Der Kleine weint jeden Tag.“ Ein Haus mieten, das wäre Amiras größter Wunsch, doch Häuser sind schwer zu finden. Insha'allah, so Gott will, hat eines Tages jemand einen Tipp für sie.

"Ich bin einfach dankbar, erzählen zu können"

Auch Safowan braucht früher oder später eine Wohnung, doch erst einmal muss er seine Familie wieder haben. Viele sind noch in Syrien, seine Frau und die drei Kinder stecken in der Türkei fest. Safowan selbst hat schon eine Aufenthaltserlaubnis, jetzt wartet er auf einen Termin bei der deutschen Botschaft in Ankara, um seine Familie nachholen zu dürfen. „Man sagte mir: In zwei Monaten bekommen sie einen Termin. Das war im Oktober“, erzählt er. „Meine Kinder fragen die ganze Zeit: Wo ist Papa? Wieso kommt er nicht, um uns zu holen? Meine Frau ist völlig hilflos.“ Safowan erzählt ruhig und gelassen. Dass ihm kaum jemand weiterhelfen kann, ist ihm klar. „Ich bin einfach dankbar, davon erzählen zu können“, sagt er.

Viele Fragen bleiben offen, viele Probleme ungelöst – doch dass hunderte Wilhelmsburgerinnen und Wilhelmsburger gekommen sind und zusammen feiern, ist zumindest ein gutes Zeichen. „Das ganze Bürgerhaus!“, sagt Kesbana Klein. „Wie lange ist das her, dass wir das ganze Haus in Beschlag hatten?“ Auch Barbara Kopf, die als Leiterin des Freizeithauses und Engagierte im Weltcafé Kirchdorf-Süd dabei ist, findet das Fest „total bombastisch“. Am frühen Nachmittag hatte sie Freunde und Bekannte in der Erstaufnahmestelle am Karl-Arnold-Ring abgeholt. „Die standen alle schon bereit.“ Sogar Flüchtlinge, die früher in Wilhelmsburg wohnten und nun in andere Stadtteile verlegt wurden, seien wieder einmal vorbei gekommen, sagt sie. Etliche der mit Symbolen bestückten Stadtteilkarten, die geflüchteten Menschen bei der Orientierung in der Nachbarschaft helfen sollen, habe sie schon unter die Leute gebracht. Nur der Frauenraum kam nicht so gut an, wie sie erwartet hatte. „Ich hatte mir gedacht, es wäre ganz schön, wenn die Frauen sich ein bisschen zurückziehen können“, erklärt sie. Bei der Enge in den Unterkünften hätte sie das naheliegend gefunden. „Es wurde aber nicht angenommen, weil die Frauen sich gar nicht zurückziehen wollten“, sagt Barbara Kopf unumwunden. Beim nächsten Fest will sie dann etwas anderes anbieten.

von Annabel Trautwein

 

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